Aus: junge Welt Nr. 131 – 7. Juni 2012 / Von Jürgen Heiser
Die US-Ermittlungsbehörden scheinen doch ein größeres Interesse an Julian Assange, dem australischen Journalisten und Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, zu haben, als sie öffentlich zugeben. Am 30. Mai hatte der Oberste Gerichtshof Großbritanniens der Auslieferung Assanges an Schweden zugestimmt. Als letztes Rechtsmittel bleibt ihm die Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Nach Einschätzung juristischer Beobachter des Falles ist aber von einer baldigen Überstellung an die schwedische Justiz auszugehen. Ein Argument der Verteidiger gegen die Auslieferung ihres Mandanten an Schweden wegen angeblicher Sexualdelikte, die Assange als »schmutzige Tricks« seiner Gegner abstreitet, ist die drohende Gefahr seiner Überstellung an die USA. Assange befürchtet, daß ihn die US-Justiz ergreifen möchte, weil Wikileaks seit 2010 im großen Stil interne US-Dokumente veröffentlicht und die USA damit in Erklärungsnot gebracht hat. Bereits im Juli 2010 hatte das Wall Street Journal berichtet, im US-Justizministerium sei eine Anklage gegen Assange in Vorbereitung. Gleichzeitig wurde bekannt, daß die USA Großbritannien, Deutschland, Australien und weitere westliche Verbündete aufgefordert hatten, Strafermittlungen gegen Assange einzuleiten.
Unmittelbar nach dem jüngsten Richterspruch in London dementierte ein US-Regierungssprecher das Interesse Washingtons an Assanges Auslieferung. Doch jetzt mehren sich die Anzeichen, daß die US-Bundespolizei FBI intensiv Beweismaterial gegen Assange sammelt. Dabei geht es vor allem um Vernehmungen von Gesprächspartnern Assanges, die in seiner halbstündigen Talkshow »The World Tomorrow« (Die Welt von morgen) bei dem englischsprachigen Fernsehsender Russia Today aufgetreten sind. Seit April lädt der Wikileaks-Gründer wöchentlich Menschen ein, die nach seinen Worten »führende Persönlichkeiten aus der Politik oder revolutionäre Denker« sind.
Der letzte Gast in seiner Talkshow war der Franzose Jeremy Zimmerman, Mitbegründer der Gruppe »La Quadrature du Net« (Die Quadratur des Netzes). Thema war die Freiheit des Internet. Noch vor Ausstrahlung der aufgezeichneten Sendung wurde Zimmerman festgenommen, als er von den USA nach Frankreich fliegen wollte. Beamte, die »sich als FBI-Agenten zu erkennen gaben«, so Zimmerman auf der Wikileaks-Website, führten mit ihm über mehrere Stunden eine »völlig andere Art von Interview«. Sie wollten Details über Julian Assange hören. Als der Cyberaktivist um Aufklärung über seine Rechte bat, wurde ihm mit Verhaftung und Gefängnis gedroht.
Zuvor war schon der Fall des Menschenrechtsaktivisten Nabeel Rajab aus dem Königreich Bahrain bekanntgeworden, der im April auf dem International Airport Bahrain von Sicherheitskräften verprügelt und einen halben Tag festgehalten worden war. Die Behörden nannten keinen Grund dafür, aber es kam zu den Repressalien unmittelbar nach dem Auftritt von Rajab in Assanges vierter Talkshow.
Auch der Isländer Smári McCarthy, Mitbegründer der Icelandic Digital Freedoms Society, wurde bei seinem jüngsten Besuch in den USA »von drei US-Offiziellen« festgehalten. Sie wollten ihn dazu bringen, als »Informant«für die US-Behörden zu arbeiten. Momentan sei McCarthys Aufenthaltsort unbekannt, so Russia Today, aber er stehe in Verbindung mit der Abgeordneten des isländischen Parlaments Birgitta Jónsdóttir. Gegen sie ermittelt die US-Justiz, seit sie im Abspann des Wikileaks-Videos »Kollateraler Mord« über die Erschießung von Zivilisten durch US-Kampfhubschrauber in Bagdad als Koproduzentin genannt war. Sie war es auch, die den »Whistleblower« Bradley Manning für den Friedensnobelpreis vorschlug. Er soll Wikileaks das Videomaterial und weitere Dokumente zugespielt haben. Dafür sitzt der Nachrichtenanalyst der US-Armee seit Mai 2010 in Militärhaft. Unter dem Druck des Pentagon hat er sich nicht zum Kronzeugen gegen Assange machen lassen, sieht nun aber selbst lebenslanger Haft entgegen. Seit dem gestrigen Mittwoch bereitet ein Militärgericht in Fort Meade, Maryland, mit der auf drei Tage angesetzten vierten Anhörung das Kriegsgerichtsverfahren vor. Assanges Verteidigerin Jennifer Robinson beobachtet dieses Verfahren, da es nach ihren Worten »in direktem Zusammenhang« mit den Ermittlungen gegen ihren Mandanten steht.