Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 127 – 2./3. Juni 2012
In weiten Teilen der Welt gehen die zur Stimmabgabe aufgerufenen Bürger eher halbherzig als hoffnungsvoll zu den Wahlurnen. Der Grund ist darin zu suchen, daß wir uns schon daran gewöhnt haben, nicht für etwas zu stimmen, sondern gegen diejenigen, von deren Politik wir enttäuscht sind. Wir entscheiden uns meist für das geringere Übel und wundern uns dann, daß unser Einfluß immer geringer wird. Wenn überhaupt, wählen wir also negativ, und die treibende Kraft dahinter ist eigentlich die Angst vor dem größeren Übel.
Die Wählerschaft in den USA hat sich längst an diese Angst gewöhnt, und die entsprechenden Kampagnen zeigen, daß die Wahlkampfmanager die Techniken der Manipulation unserer Gefühle meisterlich beherrschen. Entsprechend zeigen sich uns die politischen Gegenspieler nicht einfach nur als Widersacher, sondern als Feinde. Und so ist es schon immer gewesen, seit es Wahlen in den USA gibt.
Der französische Historiker und Politiker Alexis de Tocqueville (1805–1859) war ein scharfer Beobachter und Analytiker des politischen Systems der Vereinigten Staaten von Amerika. In seinem 1835 veröffentlichten klassischen Werk »Über die Demokratie in Amerika« traf er folgende Aussage über die Parteien: »Die Union wird von Parteien gefährdet, deren Politik nicht auf abstrakten Prinzipien, sondern auf temporären Interessen beruht. Aus diesen über die Provinzen eines riesigen Imperiums verbreiteten divergierenden Interessen konstituieren sich jedoch eher rivalisierende Nationen als Parteien.«
Parteien, die einander bekämpfen wie »rivalisierende Nationen«. Von rivalisierenden Nationen ist allerdings nicht zu erwarten, daß sie in der Verfolgung ihrer Interessen den Kompromiß suchen, vielmehr führen sie Krieg gegeneinander. Wahlen hin, Wahlen her – wer siegen will, für den ist wie im Krieg alles erlaubt.
Und am Ende bleibt die entscheidende Frage, wer die wirklichen Gewinner sind. Es sind nicht die Wähler, nicht die Bürger. Denn wer bei Wahlen die meisten Stimmen erhält, ist weitgehend irrelevant. Die wahren Gewinner sind jene, die über Kapital verfügen, die Unternehmen, die Politik mit ihren großen Wahlspenden machen, die sogenannten »Super PACs«. (Diese »Political Action Committees« der Wirtschaft dürfen seit der Reform der Wahlkampffinanzierung durch den Obersten Gerichtshof im Jahr 2010 ihr Geld unbegrenzt sowohl für als auch gegen einen Kandidaten einsetzen; Anm. d. Red.)
Wähler sind nützlich, aber nur als Figuren in einem Spiel, dessen Regeln gegen sie aufgestellt wurden. Wahlen, wie wir sie kennen, sind in gewisser Weise wie Liebesaffären, die in Verklärung beginnen und in Trübsinn enden. Wir geben unsere Stimmen für Phantome ab und sind dennoch immer wieder überrascht, wenn wir in einem Alptraum erwachen.
Übersetzung: Jürgen Heiser