Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 111 – 12./13. Mai 2012
Was wir heute unter dem Begriff »Rasse« verstehen, ist ein Phänomen unserer Zeit, das durch politische und ökonomische Interessen beeinflußt wird, nicht durch die Wissenschaft. Denn in Wahrheit gibt es in unserer Humanwelt nur eine »Rasse«, nämlich die der Menschen. Alle heute existierenden Ethnien stammen von der menschlichen Urgesellschaft in Afrika ab, von einer afrikanischen Genesis, symbolisiert durch die schwarze Eva. Politik aber, die einer eigenen Dramaturgie folgt, hat schon immer eigene Merkmale sozialer Unterschiede und Rangfolgen geschaffen und genährt.
Wenn wir heute im Kontext der US-Gesellschaft den Begriff »Hispanics« verwenden, wissen wir dann wirklich, von wem wir sprechen? Dieser Begriff fand erst in der jüngeren Vergangenheit einen weitverbreiteten Gebrauch und zwar in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts. Der im April 2011 verstorbene afroamerikanische Historiker Manning Marble schrieb in seinem 2003 veröffentlichten Buch »The Great Wells of Democracy: The Meaning of Race in American Life« (etwa: Die großen Quellen der Demokratie: Die Bedeutung der Rasse im amerikanischen Leben):
»Im Jahr 1971 erfand das Statistische Bundesamt der USA die Kategorie ›Hispanic‹ (hispanisch). Dieser Begriff wurde einem 16 Millionen Menschen umfassenden Bevölkerungsanteil verpaßt, der sich durch divergierende und sogar gegensätzliche Eigenschaften, kulturelle Traditionen und politische Loyalitäten auszeichnet: Schwarze Panamaer, die ursprünglich aus Jamaika oder Trinidad stammen, aber spanisch sprechen, Argentinier italienischer oder deutscher Herkunft, aus Kuba stammende Castro-Gegner der weißen Oberschicht aus Miami, verarmte mexikanisch-amerikanische Landarbeiter im kalifornischen Central Valley und schwarze Dominikaner, die in New York City in Manhattans Stadtteil Washington Heights im Dienstleistungsgewerbe oder in Fabriken arbeiten. Wenn Staaten oder Hierarchien den ›Anderen‹ begrifflich erfassen, schafft der Akt der Namensgebung für die Unterdrückten eine eigene Dinglichkeit. Ob jemand Zugang zu staatlichen Ressourcen, Wirtschaftsförderung oder Stipendien für Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Bevölkerungsgruppen erhält, wird zum Teil dadurch bestimmt, wer als ›hispanisch‹ gilt und wer nicht.«
Wenn US-Bürger als »Hispanics« gelten, weil sie spanisch sprechen, sind wir dann »Anglos«, nur weil wir englisch sprechen? Wenn also Politiker reale Unterschiede durch nivellierende Begriffe einebnen, und wenn diese dann nur lang genug im allgemeinen Sprachgebrauch zur Anwendung kommen, schaffen sie irgendwann ihre eigene Realität.
Übersetzung: Jürgen Heiser