Aus: junge Welt Nr. 232 – 6. Oktober 2011 / Schwerpunkt / Seite 3 Von Jürgen Heiser
Am 28. September 2011 ging die Meldung um die Welt, in Portugal sei ein seit 41 Jahren gesuchter Straftäter und Flugzeugentführer aus den USA verhaftet worden. Zwei Tage zuvor hatte die portugiesische Polizei frühmorgens ein Haus in dem 45 Kilometer westlich der Hauptstadt Lissabon gelegenen Küstendorf Almocageme umstellt. Seit 20 Jahren lebte dort eine Kleinfamilie: Die Portugiesin Maria do Rosario Valente, ihr Mann, der aus der ehemaligen portugiesischen Kolonie Guinea-Bissau stammende Afrikaner José Luis Jorge dos Santos, und ein Sohn und eine Tochter, beide um die zwanzig Jahre alt. Jorge dos Santos spricht fließend Portugiesisch, eine Zeitlang hatte er ein kleines Grillrestaurant betrieben, mal als Türsteher eines Nachtklubs, mal mit Gelegenheitsjobs sein Geld verdient.
Nach diesem aufregenden Montag trugen die Meldungen der Nachrichtenagenturen nun die Weltpolitik ins Dorf. Laut einem Auslieferungsersuchen der USA sollte es sich bei dem 68jährigen dos Santos nämlich um den in Detroit [spätere Korrektur: in Halifax, Virginia] geborenen Afroamerikaner George Wright handeln. Am 19. August 1970 sei er zusammen mit drei Mithäftlingen aus dem Bayside State Prison in Leesburg, New Jersey, geflohen, in dem er seit 1962 wegen Beteiligung an einem Raubüberfall mit Todesfolge für 15 bis 30 Jahre einsitzen sollte. Nach seiner Flucht, so das FBI, habe er in Detroit im Untergrund gelebt und sich der militanten schwarzen Befreiungsbewegung angeschlossen. 1972 habe er dann gemeinsam mit vier anderen Militanten eine Maschine der Delta Airlines auf dem Weg von Detroit nach Miami gekapert. Nach Freilassung der 86 Passagiere gegen eine Million US-Dollar Lösegeld seien die fünf Entführer, die sich als Black Panthers zu erkennen gaben, nach Algerien geflogen, wo sie um politisches Asyl baten. Die algerischen Behörden gaben Flugzeug und Lösegeld an die USA zurück, ließen die Entführer aber nach kurzer Untersuchungshaft frei.
Die Gruppe wurde von Eldridge Cleaver und der Internationalen Sektion der Black Panther Party (BPP) in Algier aufgenommen. Die Regierung der Sozialistischen Volksrepublik Algerien hatte 1970 der Eröffnung des Büros zugestimmt und der Sektion Diplomatenstatus verliehen. Anfang 1973 reiste die Gruppe per Schiff nach Frankreich und lebte und arbeitete dort fortan mit neuer Identität. In der Folgezeit verließ George Wright sie mit unbekanntem Ziel.
Im Mai 1976 wurden die vier in Paris entdeckten Exilanten festgenommen und zunächst wegen eines Auslieferungsantrages der USA in das Gefängnis Fleury-Mérogis in der Nähe der Hauptstadt eingeliefert. Die »Fleury 4« waren Jean und Melvin McNair, Joyce Tillerson und George Brown, der 1970 zusammen mit George Wright aus dem Gefängnis entflohen war.
Im November lehnte das zuständige Gericht eine Auslieferung wegen der politischen Motive ihres Handelns ab. Durch das Haager Übereinkommen gegen Flugzeugentführungen von 1970 war die französische Justiz jedoch gezwungen, die Entführung der Delta-Airlines-Maschine durch die »Fleury 4« selbst vor Gericht zu bringen. Allerdings verwandelte sich die Verhandlung, die vom 20. bis zum 25. November 1978 stattfand, in ein Tribunal über den Rassismus in den USA. Ein Solidaritätskomitee organisierte eine breite gesellschaftliche Unterstützung (siehe Spalte), und fast alle französischen Medien berichteten mit Sympathie über die Angeklagten. Am Ende schlug sich das im milden Urteil der Geschworenen nieder: fünf Jahre Haft. Die beiden Frauen der »Fleury 4« kamen sofort auf Bewährung frei, die Männer 1981.
Laut CNN hatte das FBI weltweit Wrights Fingerabdrücke aus der Kartei des Gefängnisses in New Jersey mit zentralen Datenbanken abgeglichen, so auch mit solchen in Portugal, wo der Fingerabdruck auf dem Personalausweis Pflicht ist. Übereinstimmung gab es mit dem des Jorge dos Santos. Daraufhin flogen US-Beamte nach Portugal, um ihn verhaften zu lassen.
Seitdem die für New York und New Jersey zuständige Fugitive Task Force (Sondereinheit für Entflohene) des U.S. Marshals Service 2002 gegründet worden war, stand bei ihr der ungeklärte Fall (»cold case«) George Wright ganz oben auf der Liste. So jedenfalls Michael Schroeder, Sprecher der US-Marshals, die auf ihrer Website unter dem Titel »Menschenjäger – Fugitive Task Force – Sie kriegen euch« für sich werben.
Einen Tag nach seiner Festnahme hatte George Wright seine erste Anhörung vor einem Richter. Kurz darauf mußte das US-Außenministerium einräumen, daß Wright von 1984 bis 1990 mit seiner Frau in Guinea-Bissau gelebt hat. Er war dort nicht nur unter seinem richtigen Namen bekannt, sondern sogar zu gesellschaftlichen Anlässen in der US-Botschaft.
Da die US-Behörden Wrights Auslieferung zunächst nur wegen der Reststrafe von 1962 beantragt haben, versucht sein Rechtsanwalt Manuel Luis Ferreira nun bei Gericht zu erreichen, daß sein Mandant diese Strafe in Portugal absitzen kann. Sollten die USA Erfolg mit ihrem Auslieferungsantrag haben, kann Wright dagegen vor dem Obersten Gerichtshof Portugals in Berufung gehen und vor dem Verfassungsgericht Beschwerde einlegen. Ferreira erklärte, sein Mandant werde sich juristisch wehren, weil er wegen seiner Zugehörigkeit zu einer militanten Gruppe Vergeltung in den USA fürchtet.
Norris Gelman, Fachanwalt für Auslieferungsverfahren aus Philadelphia, warnte gegenüber AP, die USA würden jetzt »Himmel und Hölle in Bewegung setzen«, Wright in die USA zu holen. »Und wenn sie das mit Diplomatie erreichen können, dann werden sie es mit Diplomatie tun«, so Gelman. Gegen diese Art von »Diplomatie« wurden die »Fleury 4« durch die Stärke der internationalen Solidarität 1978 geschützt. Ob George Wright ähnlichen Schutz in Portugal erfährt, muß sich jetzt zeigen.
Solidarität in Frankreich: Freiheitskämpfer vor Gericht
Während des Prozesses gegen vier der fünf Flugzeugentführer solidarisierten sich 1978 breite Kreise der französischen Gesellschaft mit den Angeklagten. 150 Persönlichkeiten unterzeichneten einen Appell des Nobelpreisträgers für Physik, Prof. Alfred Kastler, in dem sie u.a. erklärten:
»Es geht uns nicht darum, den Akt der Flugzeugentführung zu rechtfertigen. Die Tradition unseres Landes, jenen Asyl zu gewähren, die aufgrund ihrer persönlichen Meinung und ihres politischen Handelns bedroht werden, findet in diesem Fall jedoch ihre volle Rechtfertigung.«
In Le Monde vom 18.11.1978 erschien eine Anzeige mit einer von Gewerkschaften, Juristenvereinigungen, religiösen, antirassistischen und Menschenrechtsorganisationen und der Friedensbewegung unterzeichneten Erklärung, in der es hieß:
»Wir, Organisationen unterschiedlicher Herkunft und Überzeugungen, fordern, daß dieser Fall in seinem Kontext von 1972 betrachtet und beurteilt wird, d. h., im Zusammenhang des Vietnamkrieges und seiner Folgen und der schrecklichen Repression gegen die schwarze Bewegung in den USA. (...) Das heutige Klima der Angst und Unsicherheit darf nicht auf diesem Fall lasten. Wir fordern eine milde Justiz und daß Frankreich diesen Frauen und Männern Asyl gewährt.«
Bekannte Schriftsteller und Schauspieler, darunter James Baldwin, Simone Signoret und Yves Montand, sowie Politiker der verschiedenen Parteien, Gaullisten, Sozialisten, Kommunisten, die großen Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, Vertreter der katholischen und protestantischen Kirche und geachtete Widerstandskämpfer der Résistance und die in Frankreich angesehene Angela Davis setzten sich für die angeklagten Black Panthers ein. Einige von ihnen sagten auch im Prozeß als Zeugen der Verteidigung aus, so Jacques Debu-Bridel, einer der bekanntesten Résistancekämpfer, Gaullist und damals Präsident der Organisation »Frankreich, Land des Asyls«, der den Geschworenen ins Gewissen redete: »Vor Ihnen stehen vier Menschen, die für die Rechte des Menschen gekämpft haben. Im Namen meiner Organisation sage ich Ihnen, Sie sitzen hier über Freiheitskämpfer zu Gericht. Ja, sie haben Gewaltakte begangen, aber das haben wir alle getan, die wir in der französischen Résistance gekämpft haben.« (jh)
»Unzulängliches politisches Verständnis«
Flugzeugentführung bereut – Erklärung der »Fleury 4« in Paris
Die 1966 von Bobby Seale und Huey P. Newton in Kalifornien gegründete Black Panther Party for Selfdefense (BPP) entwickelte sich in wenigen Jahren zu einer landesweit aktiven Organisation mit vielen Ortsgruppen. Das weiße Establishment sah die Gefahr der Revolte und schickte seine Bundespolizei gegen den »inneren Feind« ins Feld. Das FBI entfachte einen brutalen »Krieg an der Heimatfront« (FBI-Direktor J. Edgar Hoover). Dutzende führende Köpfe der Partei wurden ermordet, viele Mitglieder verhaftet, in den Untergrund oder ins Exil gedrängt. Einige Black Panthers, darunter der in den USA per Haftbefehl gesuchte Eldridge Cleaver, flüchteten nach Algerien und bauten dort die Internationale Sektion der Black Panther Party auf. Dieser wollte sich die Gruppe der Flugzeugentführer anschließen. Im Prozeß in Paris übernahmen die vier angeklagten Militanten 1978 die Verantwortung für die Aktion und erklärten den Hintergrund ihres Handelns:
»Wir wuchsen in einem Land auf, in dem die Lage der schwarzen Bevölkerung derart dramatisch ist, wie man es sich in Frankreich nicht vorstellen kann. Dazu gehören die unerträgliche rassistische Diskriminierung, die Verbannung in die berüchtigten Ghettos, die Auflehnung gegen soziale Verhältnisse, die gesellschaftliche Krankheiten wie Kriminalität, Drogenabhängigkeit und Prostitution erzeugen, die fortwährenden Provokationen durch das FBI, von denen einige während der gegenwärtig vor dem US-Kongreß laufenden Untersuchungen enthüllt wurden, und die Ermordung unserer schwarzen Anführer: Friedensnobelpreisträger Dr. Martin Luther King, Malcolm X, Medgar Evers, Fred Hampton und George Jackson. In diesem Klima von Terrorismus und Gewalt haben wir uns dem Kampf unserer schwarzen Schwestern und Brüder angeschlossen.
Wir haben uns im Kampf gegen den völkerrechtswidrigen und ungerechten Krieg engagiert, den die US-Regierung gegen das vietnamesische Volk geführt hat. Einer von uns ist aus der US-Armee desertiert und untergetaucht, um nicht in diesem Krieg kämpfen zu müssen. (...)
Weil wir unter schwierigen Bedingungen im Untergrund lebten und jederzeit Gefahr liefen, verhaftet, ins Gefängnis geworfen oder getötet zu werden; weil wir von allen politischen Organisationen isoliert waren, vor allem von der Black Panther Party, der wir uns in dieser Epoche anschließen wollten; und weil wir damals über ein unzulängliches politisches Verständnis verfügten, entschlossen wir uns, ein Flugzeug zu entführen, um die USA zu verlassen, uns offen der Black Panther Party im Exil anzuschließen und gleichzeitig die dringend notwendigen finanziellen Mittel für unseren Kampf zu besorgen. Wir bereuen zutiefst, diese Aktion durchgeführt zu haben, weil wir heute – im Gegensatz zu damals – davon überzeugt sind, daß solche Aktionen der Sache unseres Volkes nicht dienen, sondern unserem Kampf im Gegenteil großen Schaden zufügen.«
(Übersetzung: Jürgen Heiser)
Links zu den Originalartikeln
a) Angst vor Vergeltung:
http://www.jungewelt.de/2011/10-06/052.php?sstr=George|Wright[1]
b) Flugzeugentführung bereut:
http://www.jungewelt.de/2011/10-06/053.php[2]