Kolumne # 579 vom 28.01.2012: Wieviel kostet ein Kind?

28.01.12 (von maj) North Carolina will Überlebenden des Sterilisationsprogramms von 1929–1974 Barabfindungen in Höhe von 50000 Dollar zahlen

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 24 – 28./29. Januar 2012

Wieviel ist Ihr Kind wert? Wieviel ist Ihr Enkelkind wert? Das sind keine Fangfragen. Sie ergeben sich vielmehr aus Zeitungsmeldungen, daß der US-Bundesstaat North Carolina jüngst ankündigte, er werde Tausenden von Überlebenden Barabfindungen zahlen, die Opfer seines staatlichen Sterilisationsprogramms waren. Eines Programms, das von 1929 bis 1974 lief – also erstaunliche 45 Jahre lang!
North Carolina war nur einer von mehreren Bundesstaaten zumeist im Süden der USA, die Menschen sterilisieren ließen, weil sie als »gestört« angesehen wurden. Dabei wurden diese Staaten von höchsten Stellen wie dem Obersten Gerichtshof der USA unterstützt, der 1927 im Fall Buck gegen Bell entschied, ein Staat dürfe seine Bürger ordnungsgemäß sterilisieren und diese Bürger hätten kein verfassungsmäßig garantiertes Recht, sich dem zu widersetzen. Mit den Worten von Richter Oliver Wendell Holmes: »Drei Generationen von Schwachsinnigen sind genug!« Eine Regierungskommission North Carolinas sprach sich jetzt für Entschädigungen von 50.000 US-Dollar für jedes überlebende Opfer des Programms aus.
Es wäre jedoch falsch, North Carolina allein zum Prügelknaben zu machen, denn solche Programme wurden mit Unterstützung Washingtons landesweit praktiziert. Die Historikerin Mary Frances Berry und der 2000 verstorbene Historiker John Blassingame schrieben in ihrem 1982 in New York veröffentlichten Werk »Long Memory: The Black Experience in America«, daß das US-Ministerium für Gesundheit, Bildung und Soziales noch in den 1970er Jahren »100.000 bis 150.000 Menschen jährlich zwangssterilisieren ließ«! Über 90 Prozent der Betroffenen waren schwarz.
Diese entsetzliche staatliche Praxis und ihre erschreckende Absegnung durch den Obersten Gerichtshof erlaubt uns einen Einblick in die Art und Weise, wie bestimmte Vorurteile und Geisteshaltungen in alle Gesellschaftsbereiche einsickern und trotz ihres offensichtlichen Irrsinns zunächst von scheinbar aufgeklärten Teilen der Gesellschaft als vernünftig angesehen werden, um schließlich viele Jahre später wieder als abscheulich in Verruf zu geraten.
Wenn ein Staat oder eine Nation seine bzw. ihre eigenen sogenannten Bürger sterilisieren kann, ihnen also das Recht und die Fähigkeit, Kinder zu bekommen, verwehrt, was ist dieser Staat oder diese Nation dann anderes als eine Diktatur der Arroganz und der Macht?
Eines Tages, vielleicht früher als wir es uns heute vorstellen können, werden wir zurückschauen auf das Phänomen der Masseninhaftierung und auf den gefängnisindustriellen Komplex und sie als Beweis einer dem Wahn verfallenen Gesellschaft erkennen. Eventuell wird ein solcher Staat der Zukunft den Überlebenden des Gefängnissystems nach 75 oder 80 Jahren Reparationen – oh Pardon, ich meine natürlich Entschädigungen – zahlen. Wenn es dann noch Überlebende gibt.

Übersetzung: Jürgen Heiser

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