Kolumne # 571 vom 3.12.2011: Rebellion als Medizin

03.12.11 (von maj) »Occupy«-Aktvisten sind nur ein kleiner Teil der Unzufriedenen. Proteste nicht »unamerikanisch«

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 281 – 3./4. Dezember 2011

Der »Occupy Wall Street«-Bewegung ist es sicher gelungen, die Aufmerksamkeit auf die Unzufriedenheit zu lenken, die viele Menschen in den USA in der Tiefe ihrer Seele aufgewühlt hat. Die Aktiven dieser Bewegung, die jetzt noch entschlossen auf die Straße gehen, während der Winter schon weite Teile des Landes in seinem Griff hat, sind aber nur ein kleiner Prozentsatz der Masse der Unzufriedenen. Ihre Anzahl in hundert, manche sagen sogar tausend Städten, ist ganz bestimmt beeindruckend. Aber die Mehrheit derer, die insgesamt mit den meisten Zielen dieser Bewegung übereinstimmen, muß noch mobilisiert werden, ebenfalls auf die Straße zu gehen. Zumindest jetzt sind sie noch nicht dabei.
Wer wollte aber leugnen, daß die Unzufriedenheit mit den Eliten der Wirtschaft und ihren Lakaien in der Politik weit verbreitet ist? Nach jüngsten Umfragen hat der US-Kongreß nur noch die Unterstützung von rund zehn Prozent der wahlberechtigten US-Bürger. Anders gesagt, neunzig Prozent der US-Bevölkerung stehen nicht mehr hinter dem Kongreß. Neunzig Prozent!
Wenn so ein überwältigender Prozentsatz der Staatsbürger die Arbeit der politischen Amtsträger ablehnt, wie kann man dann noch von Demokratie sprechen? In den parlamentarischen Systemen, wie sie in den meisten europäischen Ländern vorherrschen, würde so ein hundsmiserabler Grad von Zustimmung zwangsläufig zu einem Mißtrauensvotum gegen die Regierung führen. Aber hier in den Vereinigten Staaten hat sich das erstarrte, verkrustete politische System für die meisten Menschen in ein Gefängnis verwandelt, das ihre politische Willensbildung blockiert. Und die Politiker schauen ganz offen und hochmütig nur noch auf die egoistischen Interessen der reichen Eliten – jenes »einen Prozents«, für das die Occupy-Bewegung nur noch Spott und Häme übrig hat.
In den Jahren 1786 und 1787 wurde Neuengland vom bewaffneten Aufstand der Shays-Rebellion erschüttert. Kleinbauern und ehemalige Soldaten aus dem Unabhängigkeitskrieg protestierten unter Führung von Daniel Shays gegen hohe Schulden und Steuern und die daraus resultierenden Zwangsvollstreckungen und Verhaftungen. Thomas Jefferson sah zu dieser Zeit solche Störungen staatlicher Ordnung als natürlich und gesund an. Der Historiker Howard Zinn zitiert Jefferson in seinem Werk »Eine Geschichte des Volkes der Vereinigten Staaten« mit den Worten: »Ich bin der Ansicht, daß ein wenig Rebellion hier und da eine gute Sache und in der politischen Welt so notwendig ist wie Stürme in der physikalischen. Sie ist eine Medizin, die für die Gesundheit der Regierung notwendig ist. Gott möge verhindern, daß wir jemals länger als zwanzig Jahre ohne eine solche Rebellion bleiben.« An diese Worte sollten wir denken, wenn uns demnächst wieder einmal zu Ohren kommt, daß ein Neokonservativer oder ein Mitglied der Tea Party die »Occupy«-Bewegung als »unamerikanisch« bezeichnet.
Die Leute sind stocksauer auf Politiker, die nichts als geschmierte Marionetten der Plutokratie sind. Die schauen seelenruhig zu, wie das neue Rom in Flammen aufgeht und zünden ihre importierten Zigarren mit Hundertdollarnoten an.

Übersetzung: Jürgen Heiser


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Stand: 23.11.2024 um 15:21:39 Uhr