Aus: »Schwerpunkt« junge Welt Nr. 194 – 22. August 2011 /
Von Jürgen Heiser
Isaac Ontiveros ist Sprecher der US-Organisation »Critical Resistance«, die gegen den gefängnisindustriellen Komplex mobilisiert. Außerdem ist er Mitglied des Bündnisses »Vereinte Kalifornier für einen verantwortungsvollen Haushalt« (Californians United for a Responsible Budget – CURB) und Mitglied der »Prisoner Hunger Strike Solidarity Coalition«
Am 1. Juli 2011 begannen Gefangene des SHU-Isolationstraktes im Pelican Bay Staatsgefängnis im US-Bundesstaat Kalifornien mit einem Hungerstreik. Welche letzten Informationen gibt es über den Protest?
Am 20. Juli erklärten die Streikführer im Isolationstrakt des Pelican Bay Staatsgefängnisses ihren Hungerstreik für ausgesetzt. Grund war, daß sie Bewegung auf seiten der Gefängnisbehörde California Department of Corrections and Rehabilitation (CDCR) sahen, sich mit einigen ihrer Forderungen zu befassen.
Die Hungerstreikenden haben ihren Kampf als Sieg bezeichnet. Warum?
Weil sie sehr wichtige historische Erfolge erzielt haben. Daß sie das CDCR überhaupt zu einer Reaktion bewegen konnten, ist eine echte Leistung, und daß sie es trotz ihrer extremen Isolation geschafft haben, sich untereinander zu koordinieren, war beeindruckend. Außerdem wurde der Streik im ganzen kalifornischen Knastsystem solidarisch unterstützt. Zudem haben sie erreicht, daß der Streik außerhalb der Gefängnisse und weltweit eine starke Unterstützung fand.
Wie sieht die nächste Kampfphase aus?
Das CDCR zu verpflichten, die Verhandlungen auf der Basis »vertrauensbildender Maßnahme« fortzusetzen, und weiter Druck für die Erfüllung aller Forderungen der Gefangenen zu machen. Unterstützer draußen müssen ihre Arbeit fortsetzen und besonders darauf achten, daß die Streikführer vor Vergeltungsmaßnahmen der Gefängnisbehörden geschützt werden. In den USA und anderen Ländern werden weitere Aktionen vorbereitet. Am morgigen Dienstag wird in Sacramento eine wichtige parlamentarische Anhörung über den Isolationstrakt Security Housing Unit (SHU) in Pelican Bay durchgeführt, zu der eine große Mobilisierung stattfindet.
Das Bürgerbündnis CURB hat Massenproteste gegen die Gefängnispolitik in Kalifornien organisiert und unter der Überschrift »Haushalt der Menschlichkeit« für eine drastische Reduzierung der Finanzausgaben für das Gefängnissystem und der Zahl der Gefangenen plädiert. In welchem Zusammenhang steht diese Kampagne mit den Forderungen des Hungerstreiks?
Weil mehr Gefängnisse auch mehr Folter bedeuten, mehr Isolationstrakte, mehr Menschen, die eingesperrt werden, mehr Stadtteile und Gemeinden, die ökonomisch und sozial noch mehr ausgeblutet werden. Die Hungerstreikforderungen bezogen sich vor allem auf die Haftbedingungen im SHU-Trakt von Pelican Bay, weil dieser Trakt eine besondere Funktion erfüllt. Daß der Funke der Solidarität auf das gesamte kalifornische Knastsystem übersprang, sagt etwas darüber aus, wie sich die Bedingungen überall gleichen: der tödliche Mangel an medizinischer Versorgung, schlechtes Essen, Überbelegung, Zerschlagung politischer Organisierung usw. Diese Bedingungen stehen auch im Zusammenhang mit jenen außerhalb der Gefängnisse, vor allem in den Gemeinden der Schwarzen und Latinos.
CURB hat in seinem Papier »Haushalt der Menschlichkeit« seine politischen Hauptforderungen formuliert: sofortiger Baustopp für Landes- und Bezirksgefängnisse, Abbau der Überbelegung, Entkopplung von Steuerdollars und Inhaftierungsrate sowie Einstellung aller Kürzungen im Bereich der wichtigsten Sozialleitungen. Ein Baustopp für Haftanstalten würde die Freilassung Zehntausender Menschen und die Einsparung von Milliarden US-Dollar bedeuten, und die Einstellung der Angriffe auf Lebensgrundlagen wie Bildung, Gesundheit und sinnvolle berufliche Beschäftigung würde alle Gemeinden stärken, in die Entlassene zurückkehren und in denen sie dann ein gedeihliches Leben führen könnten.
Wir müssen begreifen, daß es hierbei um mehr als nur finanzpolitisch sinnvolle Entscheidungen und einen ausgewogenen Staatshauhalt geht. Es geht dabei auch um politische Macht. Es geht um den Kapitalismus und die weiße Vorherrschaft.
Können Sie uns etwas zur Geschichte der »Haushaltskrise« Kaliforniens sagen und zu deren Verhältnis zum Anwachsen der Häftlingszahlen in den USA von 300.000 in den 1970er Jahren auf über zwei Millionen heute?
In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren erlebten die USA Aufstände gegen Rassismus, soziale und ökonomische Ungleichheit und andere Formen der Unterdrückung, die damals mit antiimperialistischen Kämpfen überall auf dem Planeten verbunden waren. Die Machthaber reagierten darauf mit einem vielschichtigen Krieg, der sich vor allem gegen die farbige Bevölkerung richtete. Dazu gehört die Ausweitung und Militarisierung von staatlicher Überwachung und eine Steigerung der Inhaftierungsrate. Das alles steht im engen Zusammenhang mit einer sich in dieser Zeit verschärfenden Krise des kapitalistischen Systems. Wir erlebten einen Angriff auf die organisierte Arbeiterschaft und die staatlichen Sozialleistungen, der seine Ursache im Aufschwung neoliberaler Wirtschaftsmodelle hatte und die Kluft zwischen den Besitzenden und Besitzlosen vertiefte.
In den 1980er Jahren lief der »Krieg gegen die Drogen« – den wir als Krieg gegen die schwarze und hispanische Bevölkerung begreifen sollten – auf Hochtouren. Dazu wurden unzählige Gesetze verschärft, härtere und längere Strafen verhängt und aggressive Medienkampagnen initiiert, um Arme und vor allem Schwarze zu kriminalisieren und als Monster darzustellen. Obwohl die sogenannte Kriminalitätsrate in den frühen 1980er Jahren zu fallen begann, bereiteten Wirtschaftskrise, Panikmache, verschärfte staatliche Überwachung gemischt mit der Verbreitung antisozialer Propaganda, wonach Sozialleistungen weggeworfenes Geld sind, einen fruchtbaren Boden für vermehrtes Einsperren. Dieser Teufelskreis setzte sich mit dem Erschweren der Aussetzung von Haftstrafen zur Bewährung und der Verschärfung der Bewährungsbestimmungen fort, wodurch es leichter wurde, notwendige staatliche Unterstützung zu verweigern und mehr Menschen für längere Zeit wegzusperren.
Kalifornien, mit einer der stärksten Ökonomien weltweit, weist gleichzeitig eines der am schnellsten wachsenden Gefängnissysteme der Weltgeschichte auf: Zwischen 1982 und 2000 wuchs die Häftlingszahl um 500 Prozent. Zwischen 1984 und 2005 wurden zwanzig Strafanstalten gebaut, aber nur eine Universität. Und gegenwärtig liegen die Belegungszahlen der Haftanstalten bei fast 200 Prozent der ursprünglichen Kapazität.
Was bedeutet die kürzlich ergangene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, wegen der Überbelegung der kalifornischen Staatsgefängnisse mindestens 30000 Gefangene zu entlassen?
Sie ist sehr wichtig, weil sie zeigt, daß selbst der Supreme Court – der alles andere ist als eine politisch fortschrittliche Instanz – das kalifornische Gefängnissystem als skandalös, katastrophal und tödlich ansieht und sofortige Veränderungen notwendig sind. Diese Entscheidung gibt uns die Chance, die Menschenrechtskrise in- und außerhalb der kalifornischen Gefängnisse zu thematisieren.
Wie haben Regierungsstellen auf diese Gerichtsentscheidung reagiert?
Der demokratische Gouverneur Jerry Brown und das CDCR wollen nur die ins Rutschen gekommenen Deckstühle auf der sinkenden Titanic anders aufstellen. Sie gaben ihrem Plan den Titel »Neuaufstellung«. Das heißt nicht etwa, daß Häftlinge freigelassen, Bewährungsbestimmungen reformiert und die eingesparten Abermillionen Dollar zur Wiedereingliederung dieser Gefangenen genutzt werden sollen. Nein, sie haben vielmehr beschlossen, 33000 bis 40000 Gefangene von den Landes- in die kommunal verwalteten Bezirksgefängnisse zu verlegen.
Der Bezirk Los Angeles umfaßt beispielsweise 33 Prozent des gesamten kalifornischen Gefängnissystems. Die Bezirksgefängnisse sind bereits völlig überfüllt und waren Gegenstand von Skandalen wegen der Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte. Die von Brown und dem CDCR geplante »Neuaufstellung« würde bedeuten, daß weitere 11000 Häftlinge in diese Anstalten gesteckt werden. Denen geht es nicht darum, die Richtlinien für Strafzumessungen zu verändern. Sie regen statt dessen eine Verschärfung dieser katastrophalen Zustände an!
Hoffnungsvoll stimmt nur, daß es überall in diesem Bundesstaat Menschen gibt, die mehr Vorstellungskraft besitzen und humaner sind als Brown & Co. und die zu ernsthaften Veränderungen bereit sind. Eine kürzlich durchgeführte Meinungsumfrage zeigt, daß die große Mehrheit der Kalifornier gegen die Kürzungen wichtiger Sozialleistungen und gegen Steuererhöhung zur Finanzierung von Gefängnisneubauten ist. Die Leute sind für Veränderungen, und ich wage zu behaupten, daß sie sogar bereits sind, über noch weitaus bedeutendere Veränderungen nachzudenken.
Ein Interview der »Angola 3 News« (www.angola3news.com)
Übersetzung: Jürgen Heiser