Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 84 – 9./10. April 2011
Als die Erde bebte, versank das »Land der aufgehenden Sonne« in Tränen. Tsunamis ergossen sich in schwarzen Fluten meilenweit ins Land, verwüsteten Ackerböden und ließen Autos wie Spielzeug in der Badewanne auf ihren Wellen tanzen. Dann fiel der Strom aus, die Kühlsysteme von Kernkraftwerken fielen aus, Brennstäbe erhitzen sich, und ein seit Jahrzehnten kaum gehörtes Wort machte wieder die Runde: Kernschmelze.
Bis heute ist die genaue Zahl der Opfer dieser Katastrophe unbekannt, aber die vermeintliche Popularität der Kernkraftenergie ist bereits auf ein absolutes Minimum zusammengeschmolzen.
Das alles passierte nur wenige Monate, nachdem die Regierung von Barack Obama sich für den weiteren Ausbau der Kernkraftindustrie ausgesprochen hatte. Der Vorgang erinnert an die von der Industrie verlangte Förderung der Tiefseeölbohrungen durch die Regierung kurz bevor es zur Katastrophe mit der BP-Bohrplattform »Deep Horizon« im Golf von Mexiko kam.
Von den dreißig Nationen, die ihre Energie aus Kernkraft gewinnen, liegt Japan als Nummer 15 in der Mitte. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß ausgerechnet Japan als einziges Land, das je mit Atombomben angegriffen wurde, jetzt infolge einer Naturkatastrophe mit einer Kernschmelze konfrontiert ist. Die von den USA über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben bewirkten schwarzen Regen und massenhaften Tod. Die aktuelle Katastrophe brachte schwarze Flutwellen und riß Tausende in den Tod.
Ist das alles von uns so gewollt, haben wir dafür gestimmt? Für diese Kernkraftwerke, die auch bei uns stehen und weite Landstriche mit ihren Menschen, Tieren und Pflanzen mit radioaktivem Gift verstrahlen können? Für Kriege und immer mehr Kriege, für Ölteppiche auf den Meeren? Wollen wir das alles wirklich?
In den USA werden Lehrer verunglimpft, gedemütigt und abgestraft, weil sie es wagen, einen angemessenen Lohn, Sozialleistungen und ein Minimum an Respekt für ihre Arbeit zu fordern. Über fünfzehn Millionen Menschen hier sind arbeitslos, und über zwei Millionen haben ihre Eigenheime durch Zwangsvollstreckungen verloren.
Diese Situation bedeutet für Millionen von Durchschnittsbürgern eine düstere Perspektive, ist aber gleichzeitig ein Grund zum Feiern für die Investmentbanker der Wall Street, die wieder ihre Boni einstreichen und Gehälter bekommen, deren Höhe ins Astronomische geht.
In den Großstädten der USA schaffen es die Schulen kaum noch, auch nur die Hälfte ihrer Schüler mit einem Abschluß ins Berufsleben zu entlassen. Und selbst die, die ihre Schulbildung mit einem Diplom krönen, finden nur sehr schwer einen Job.
Wie steht es um den versprochenen »Wandel, an den wir glauben können«? Tag für Tag hören wir, daß die Politiker, egal welcher Partei sie angehören, in ihren Ämtern nicht mehr unter Kontrolle haben, wie die Dinge laufen. Es sind das Kapital und die Wirtschaftskapitäne, die den Kurs bestimmen. Sie streichen die Gewinne ein aus den Kriegen, den Schulschließungen und atomaren Katastrophen, und sie profitieren vom allgegenwärtigen Vertragsbruch. Unser Verlust ist ihr Gewinn.
Diese Nation, ja die ganze Welt braucht Veränderung. Einen Wandel weg vom habgierigen Kapitalismus. Einen Wandel der Verflechtung von gesellschaftlicher Produktion und Kapital. Einen Wandel in der Frage sinnloser, zerstörerischer und räuberischer Kriege, abgesegnet von der unmoralischen Politik des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Einen Wandel der Abhängigkeit von der potentiell zerstörerischen Gewalt der Kernkraftwerke. Einen Wandel dessen, was ist. Einen Wandel schließlich, der das bringt, was möglich wäre.
Übersetzung: Jürgen Heiser