Aus: junge Welt Nr. 65 – 18. März 2011
Schwerpunktseite zum Tag der politischen Gefangenen
Bradley Manning, 23jähriger Nachrichtenanalyst der US-Armee, befindet sich seit zehn Monaten unter dem Vorwurf in Haft, der Enthüllungsplattform Wikileaks internes Videomaterial über einen Einsatz von zwei AH-64 Apache-Kampfhubschraubern im Irak zugespielt zu haben. Die Aufnahmen zeigen, wie am 12. Juli 2007 neun irakische Zivilisten und zwei Journalisten der Agentur Reuters in Bagdad unter gezieltem Beschuß aus den US-Hubschraubern sterben. Unterlegt sind die entsetzlichen Bilder mit hämischen Funkkommentaren der Besatzungen, für die der Krieg ein Computerspiel zu sein scheint. Nach den ersten tödlichen Feuerstößen aus den 30-mm-Bordkanonen zielen sie auf einen weiteren Iraker, der zufällig mit seinem Kleinbus in die Szene fährt, weil er seine beiden Kinder zur Schule bringen will. Er hält an, als er einen der schwerverletzten Journalisten auf dem Bürgersteig sieht, will ihm helfen und ihn ins Krankenhaus bringen. Erneute Feuerstöße töten beide. Die Kinder überleben nur knapp, weil Ethan McCord, Soldat der US-Bodentruppen, sich Befehlen widersetzt, sich »nicht um die verdammten Kinder zu kümmern, sondern seine Einheit zu sichern«. Er rettet die Kinder aus dem zerschossenen Kleinbus und übergibt sie Sanitätern.
»Kollateraler Mord«– Beweise für Kriegsverbrechen der USA
Am 5.April 2010 veröffentlicht Wikileaks das auf Video dokumentierte Kriegsverbrechen unter dem Titel »Kollateraler Mord« im Internet (www.collateralmurder.com). Das von Wikileaks aufbereitete geheime Filmmaterial aus den Bordkameras der Helikopter wird über die internationalen Medien einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Vorübergehend gerät die US-Regierung in große Erklärungsnot und weist das Heimatschutzministerium an, das Leck im Apparat zu stopfen.
Am 26. Mai 2010 wird Bradley Manning auf dem irakischen US-Stützpunkt Hammer verhaftet und im US-Camp Arifjan in Kuwait unter Arrest gestellt. Konkrete Beweise werden nicht genannt. Klar ist nur, daß es um das Videomaterial geht, auch wenn eine Verbindung zwischen Manning und Wikileaks nicht belegt werden kann. Während er einsitzt, weil er angeblich ein Kriegsverbrechen aufgedeckt hat, wird das menschenverachtende Verhalten der Kampfhubschrauberbesatzungen nicht geahndet. Gegenüber der Agentur Reuters erklären die zuständigen Militärbehörden, das Handeln der Soldaten habe »im Einklang mit dem Kriegsrecht und den Richtlinien für den militärischen Einsatz gestanden«. Es sei rechtens gewesen.
Nach und nach sickern Informationen über die Vorwürfe gegen Manning in die Öffentlichkeit. Demnach soll er sich am 21. Mai 2010 im Internet-Chat einem Hacker namens Adrian Lamo anvertraut haben. Der 29jährige Lamo, ein US-Amerikaner kolumbianischer Herkunft, war während seiner mehrjährigen Hacker-Karriere unter anderem in die Computersysteme der New York Times und der Microsoft Corporation eingedrungen. Das US-Magazin Wired nannte Lamo den »Homeless Hacker«, weil er ruhe- und obdachlos durch die USA zog. Sein Zustand sei als labil zu beschreiben, jahrelang habe er Psychopharmaka geschluckt. Ein klassischer Cyber-Junkie halt. Irgendwann kam ihm die Justiz auf die Spur, verhängte Geld- und Gefängnisstrafen. Glaubt man den nach Mannings Verhaftung veröffentlichten Informationen, muß Lamo in dieser Zeit die Seiten gewechselt haben. Er wurde zum V-Mann der Sicherheitsbehörden. Für seinen Vater lag der Grund für die Wandlung seines Sohnes auf der Hand. Wired gegenüber machte er das FBI dafür verantwortlich.
Vorausgesetzt, die Chat-Geschichte stimmt, dann ahnte Bradley Manning rein gar nichts von Lamos Sinneswandel und vertraute außerdem darauf, im Chat mit ihm anonym zu bleiben. Nur so wäre es nachvollziehbar, warum Manning Lamo von dem Videomaterial und Tausenden Dokumenten erzählt haben soll, die er angezapft hatte. »Ich bin mir sicher, daß du viel zu tun hast«, soll Lamo gesagt haben. Mannings Antwort: »Was würdest du denn tun, wenn du einen nie gekannten Zugang zu geheimen Netzwerken hättest, vierzehn Stunden pro Tag, sieben Tage in der Woche und das für acht und mehr Monate?«
Verrat durch V-Mann oder Spielmaterial der Geheimdienste?
Fünf Tage soll der Gedankenaustausch zwischen den beiden Chat-Partnern gelaufen sein, die sich nie persönlich getroffen haben. Vom dritten Tag an sollen die von Lamo eingeschalteten Sicherheitsbehörden mitgelesen haben. Dann schlug die US-Militärpolizei zu und zog Manning aus dem Verkehr. Jedoch bleibt die Frage, ob es sich beim angeblichen Chat nicht um geheimdienstliches Spielmaterial für die Medien handelt, um nicht die wahren Hintergründe von Mannings Verhaftung offenlegen zu müssen. Nur in einem ordentlichen Gerichtsverfahren könnte darüber Klarheit hergestellt werden.
Schon am 6. Juli 2010 gibt der Militärankläger bekannt, gegen Manning werde wegen »Geheimnisverrats« und »Gefährdung der nationalen Sicherheit« ermittelt. Das zu erwartende Strafmaß könne bis zu 52 Jahren Haft betragen. Außer dem Videomaterial sollte Manning nun auch für die unerlaubte Weiterleitung Tausender US-Geheimdokumente aus den Kriegen in Afghanistan und Irak und von diplomatischen Dienststellen an Wikileaks verantwortlich sein.
Nachdem Mannings Verhaftung bekanntgeworden und er von Kuwait in das Militärgefängnis der Marinebasis Quantico verlegt worden war, erklärte Wikileaks zur Entlastung Mannings, man habe »sowohl das Video als auch damit zusammenhängende Dokumente von einer Reihe von Whistleblowern aus dem Militär erhalten«. Manning werde als Einzelner für etwas verfolgt, hinter dem ein ganzes Netzwerk stehe. Wikileaks habe nie Kontakt zu Manning gehabt, werde ihn aber gegen die Justiz solidarisch unterstützen. Manning selbst berief sich von Anfang an auf sein Schweigerecht als Beschuldigter und lehnte jede Kooperation mit der Anklage ab.
Die Solidaritätsplattform FreeBradley.org warnt davor, Manning Schaden zuzufügen, indem er als das »Leck im Apparat« gefeiert und zum Helden erklärt wird. Dazu wird ein Anwalt aus San Francisco zitiert: »In politischen Verfahren werten die Behörden Spekulation und Andeutungen gern als Tatsache. Der Staat braucht dringend einen Prügelknaben, um von seinen eigenen Missetaten abzulenken. Die Ankläger wären froh, wenn sie entsprechende Äußerungen von selbsternannten Unterstützern Mannings im Verfahren gegen ihn ausnutzen könnten.«
Für eine solidarische Unterstützung Bradley Mannings muß es reichen, daß er ungeachtet seines tatsächlichen Handelns stellvertretend für alle als Sündenbock herhalten soll, die es begrüßen, wenn als geheim eingestufte Dokumente über die US- und NATO-Kriegspolitik und begangene Kriegsverbrechen an die Öffentlichkeit gebracht werden.
Anklage wegen Hochverrats und Zermürbungstaktik in der Isolationshaft
Als die zuständige Anklagebehörde der US-Armee Anfang März 2011 das Ergebnis siebenmonatiger Ermittlungen bekanntgab, war die Anklage auf 22 Punkte angewachsen und auf den neuen Hauptvorwurf der »Unterstützung des Feindes« zugespitzt (jW berichtete). Manning soll »verteidigungsrelevante Informationen« veröffentlicht haben, obwohl »er wußte, daß sie dann dem Feind zugänglich werden«. Damit wurde das Delikt rechtlich auf die Ebene des Hochverrats gehievt. Einem Militärgericht wäre es nun theoretisch möglich, Manning nicht nur zu lebenslanger Haft, sondern auch zum Tode zu verurteilen.
Das Bradley Manning Support Network wertet das Haftstatut, dem der Obergefreite unterworfen ist, als Mittel einer ständigen Erhöhung des Drucks, um ihn zu brechen. Zusätzliche Alltagsschikanen sollen ihn weiter zermürben. Das reicht vom Entzug seiner persönlichen Habe bis zur Reduzierung seiner emotionalen Kontakte auf wenige Personen, von denen er nur Briefe erhalten darf, wenn die Militärbehörden eine Genehmigung erteilen.
Wie die Zermürbungstaktik verstärkt wird, zeigt ein Bericht des Militäranwalts David E. Coombs zur Lage seines Mandanten vom 3. März 2011: »Dem Obergefreiten Manning wurde in den vergangenen drei Nächten seine Kleidung entzogen. Diese Maßnahme soll auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werden. Jeden Abend zwingen Wärter ihn, seine Kleidung herauszugeben. Dann liegt er bis zum nächsten Morgen nackt in einer kalten Zelle, bis er die Demütigung über sich ergehen lassen muß, um 5 Uhr früh nackt zum Morgenappell vor dem diensthabenden Oberaufseher des Militärgefängnisses anzutreten. Erst zehn Minuten später erhält er seine Kleidung zurück.«
Auffällig sei, so Coombs, daß kein anderer Gefangener des Militärgefängnisses von Quantico eine vergleichbare »Isolation und Erniedrigung« zu erleiden habe wie Bradley Manning. Seine Behandlung sei »menschenunwürdig« und nicht zu tolerieren. Für das Bradley Manning Support Network erfüllen diese Haftbedingungen den Tatbestand der Folter, um mit Manning alle zu treffen, die sich der Kriegspolitik der USA widersetzen.
Quelle: http://www.jungewelt.de/2011/03-18/015.php