Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 96 - 25./26. April 2009
Für den Westen gibt es auf dem afrikanischen Kontinent derzeit nur ein Problem, nämlich die Piraterie am Horn von Afrika. Insbesondere in den letzten Monaten wurde die Aktivität der vor Somalia operierenden Piraten zum bedrohlichen Problem hochgespielt, das nach globalen Lösungen verlangt. Und »globale Lösungen« sind nach Lesart der NATO-Staaten vor allem militärische Lösungen.
Laut einer Statistik der in London ansässigen Internationalen Meeresagentur (IMB) gab es in den ersten drei Monaten dieses Jahres am Horn von Afrika 61 Piratenangriffe, mehr als zehnmal so viele wie im vergleichbaren Zeitraum des Jahres 2008. Auf einer hochkarätig besetzten »Geberkonferenz« westlicher Staaten in Brüssel wurden Somalia nun rund 250 Millionen US-Dollar an »Hilfen« zugesagt. Wer glaubt, damit solle das dramatische Elend im Land gemildert werden, um den soziopolitischen Ursachen der Piraterie Rechnung zu tragen, irrt. Mit dem Geld sollen die somalischen Sicherheitskräfte gestärkt werden, um den seit 1991 schwelenden Bürgerkrieg und den Zerfall des Staats zu stoppen. Somalias Präsident Sheik Sharif Ahmed, dessen Macht faktisch auf die Hauptstadt Mogadischu begrenzt ist, sah sich auf der Konferenz zum Kotau vor den Vertretern der USA und Europas gezwungen und entschuldigte sich für die Piratenüberfälle vor der Küste seines Landes.
Derart hofiert sahen sich Regierungsvertreter und zahlreiche politische Hinterbänkler verschiedener westlicher Länder ermutigt, in jedes hingehaltene Mikrophon gegen die »Gangster« und »Verbrecher« zu wettern und sie auch mit dem im Westen aktuell schlimmsten Schimpfwort »Terroristen« zu belegen. In dieser Logik stehend, hat auch ein ehemaliger »Terroristenjäger« die Verhandlungen bei einigen Geiselnahmen durch die Piraten geführt, nämlich der pensionierte FBI-Agent Jack Cloonan. Der 60jährige, von 1977 bis 2002 Spezialagent im New Yorker FBI-Büro und nach dem Anschlag auf das World Trade Center von 1993 vor allem mit der Bekämpfung des »islamistischen Terrors« befaßt, berät die westlichen Piratenjäger schon seit einiger Zeit.
Allerdings stellt sich die Frage: Wenn von Individuen begangene Akte der Piraterie ein Verbrechen sind, wieso sind sie es nicht, wenn Staaten sich ihrer schuldig machen? Niemand kann leugnen, daß Nord- und Südamerika den indigenen Ureinwohnern durch Gewaltakte macht- und habgieriger Europäer geraubt oder durch Tricks und gebrochene Verträge abgeluchst wurden. Auch nicht, daß Millionen Menschen aus Afrika auf Schiffen entführt und in den Amerikas über Jahrhunderte zur Sklavenarbeit gezwungen wurden. Ist das nicht auch Piraterie, begangen als »Politik« von Staaten?
Der somalische Staat hat unter den von verschiedenen Interessen geschürten Kriegen seit einer Generation praktisch aufgehört zu existieren. Die Piraterie vor den Küsten des Landes ist deshalb nichts anderes als ein Versuch des Überlebens vieler der Verdammnis ausgelieferter Menschen, wenn auch ein gewaltsamer. Warum nannte es niemand einen verbrecherischen Akt staatlicher Piraterie, als die Bush-Regierung den Nachbarstaat Äthiopien aufrüstete und gegen Somalia ins Feld schickte?
Als die USA im März 2003 auf der Basis erlogener Kriegsgründe Irak überfielen, die Zivilbevölkerung bombardierten, die Regierung stürzten, eine Marionettenregierung einsetzten und ein Drittel der Bevölkerung ins Exil zwangen – war das kein Akt staatlicher Piraterie, sondern eine »Maßnahme einer Politik der nationalen Sicherheit«?
Wer sind die wahren Gangster und Verbrecher, die wirklichen Piraten? Soweit bekannt, hat noch nie in der Geschichte eine Piratenbande ein ganzes Land geraubt. Aber wir wissen sehr genau, wer solche Akte staatlicher Piraterie bis in die jüngste Gegenwart immer wieder begangen hat.
Übersetzung: Jürgen Heiser