Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 109 - 10./11. Mai 2008
In der Justizgeschichte gibt es klassische Kriminalfälle, die jeder auf der Welt als typisch ansieht für die USA. Ein solcher Fall hatte in den letzten Wochen national und international öffentliches Aufsehen erregt, das nun schon wieder nachgelassen hat. In New York standen Ende April 2008 drei Polizisten vor Gericht, denen vorgeworfen wurde, im November 2006 fünfzig Schüsse auf ein Auto mit schwarzen Insassen abgefeuert zu haben. Zwei junge Männer wurden schwer verletzt, der Fahrer starb noch am Tatort: der 23jährige Sean Bell. Alle drei waren unbewaffnet. Sie kamen vom Junggesellenabend des Erschossenen, der am nächsten Tag heiraten wollte.
Die Nachricht über die Polizeiaktion verbreitete sich damals wie ein Lauffeuer im ganzen Land und führte zu wütenden Demonstrationen in den schwarzen Stadtvierteln vieler Großstädte der USA. Als sich vor Monaten die gerichtliche Nachbereitung des Vorfalls ankündigte, versuchten die Verteidiger der drei angeklagten Polizisten zunächst, das Verfahren in ein kleines Amtsgericht im ländlichen Norden des Bundesstaates New York verlegen zu lassen. Das Gericht lehnte den Antrag ab, stimmte aber einem weiteren zu, mit dem die Verhandlung vor einem Einzelrichter (»bench trial«) und nicht vor einer zwölfköpfigen Jury angestrebt wurde. Die drei Polizisten wollten ihr Schicksal offensichtlich nicht in die Hände jener Mitbürger legen, denen zu dienen und die zu schützen sie einst ihren Eid geschworen hatten.
Der Ausgang der Verhandlung vor dem Einzelrichter hat ihnen recht gegeben: Sie wurden in allen Punkten von der Anklage freigesprochen, weil »sich die Zeugen im Prozeß widersprochen haben«, so die Begründung des Richters. Mit diesem glatten Freispruch hat das Gericht faktisch festgestellt, daß kein Verbrechen begangen wurde. Damit wurde indirekt Sean Bells Ermordung im Nachhinein gerechtfertigt. Passend dazu hatte die Verteidigung das Argument von der »schlechten Gesellschaft« vorgebracht. Bell habe sich in die Nähe von Leuten begeben, denen Übles zuzutrauen war. Gemeint ist damit, daß er und seine Freunde den Junggesellenabschied in einer vorwiegend von Schwarzen besuchten Disco gefeiert hatten, die als Drogenumschlagplatz »polizeibekannt« ist.
Daß sich der vorsitzende Richter Arthur Cooperman von diesem Argument beeindrucken ließ, wirft ein grelles Licht auf die Art und Weise, wie schwarze Menschen in den USA im allgemeinen herabgewürdigt werden und wie leicht schwarze Männer im besonderen verunglimpft und dämonisiert werden. Wenn keiner der Polizisten auch nur einen der drei verletzten und getöteten jungen Männer kannte, wieso spielt es dann eine Rolle, wo sie angetroffen wurden und in welchem Umfeld sie sich bewegt haben? Sie hätten Anwälte, Basketball-Stars oder sogar Polizisten sein können, die ihre Freizeit zusammen verbrachten. Daß sie Schwarze sind, scheint Grund genug dafür zu sein, daß die Angreifer ihre Magazine auf sie leerschossen, denn in den USA ist es immer noch so, daß die Hautfarbe allein schon ein »Verbrechen« ist – egal ob jemand bewaffnet ist oder nicht. Deshalb hat es jetzt Sean Bell getroffen wie vor ihm Amadou Diallo und viele andere, die von Polizisten im Kugelhagel niedergemäht wurden. Und während viele schwarze und weiße US-Bürger der politischen Illusion unterliegen, das Land befände sich in einer »postrassistischen« Zeit, zeigt Sean Bells Fall, wie verdammt tödlich es sein kann, die »falsche« Hautfarbe zu haben.
Allein das Gerücht, oder besser gesagt, das angebliche Gerücht, die schwarzen Wageninsassen könnten bewaffnet sein, gab den Polizisten einen Freibrief, sie mit Blei vollzupumpen. In der Vergangenheit waren es Brieftaschen, Schokoriegel, Schlüsseletuis oder Zigarettenpäckchen in den Händen vermeintlicher Straftäter, die Polizisten reflexartig dazu brachten, gegen Unschuldige solch ungeheuerliche Gewaltakte zu entfesseln.
Es ist alles in Ordnung – das Land kann wieder zur Tagesordnung übergehen. Sean Bell wurde nur erschossen und seine Freunde Joseph Guzman und Trent Benerfield nur schwer verletzt, weil sie sich in »schlechte Gesellschaft« begeben hatten.
Übersetzung: Jürgen Heiser