Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 255 - 3./4.11.2007
Wenn wir uns die aktuelle Situation in den USA ansehen, verschärft sich der Eindruck, es herrsche auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens das Gesetz des Scheiterns. Es wird einem kaum gelingen, eine Gesellschaft zu finden, in der das Bildungssystem dermaßen vom Profit bestimmt ist wie in den USA. Bildung gibt es hier zunehmend nur für Wohlhabende, die es sich leisten können, ihre Kinder auf weiterführende Schulen zu schicken. Ganz zu schweigen vom Absolvieren eines Studiums.
Zur Finanzierung eines Studiums gibt es Darlehensangebote im Überfluß. Sie werden sogar in einigen wenigen Fällen aus Programmen der Regierung in Washington zur Verfügung gestellt. Aber wenn es darum geht, auch eine Garantie zu bekommen, in seinem erlernten Beruf Arbeit zu finden –Fehlanzeige! Wenn Studierende das Glück haben, sich ihre Hochschulausbildung durch ein Darlehen zu ermöglichen, bleiben sie am Ende auf einem Berg von Schulden sitzen. Manche mit einem Minus von über 100000 US-Dollar. Das sind die Kosten nicht nur für Matrikel- und Studiengebühren, Bücher und Lernhilfen, sondern auch für das Wohnen auf dem Campus, das Mensaessen und sonstige Lebenshaltungskosten für ein vierjähriges Universitätsstudium mit Abschluß.
Doch während eine derartige Ausbildung für Millionen potentielle Studierende in den USA mehr und mehr zu einem unerreichbaren Traum wird, der sich Lichtjahre von ihnen entfernt, gibt es ein fundiertes und völlig kostenloses Bildungsangebot nur 90 Meilen vor der US-Küste: in Kuba sind Erziehung und Bildung vom Kindergarten bis zur Hochschule garantiert frei. Erst vor kurzem hat dort eine ganze Reihe von Studierenden aus den USA zusammen mit Kommilitonen aus zahlreichen anderen Ländern ein volles Medizinstudium mit Doktortitel abgeschlossen. Aber anders als ihre Kommilitonen an den US-Hochschulen haben diese jungen Frauen und Männer ihre Abschlüsse erzielt, ohne dafür Schulden machen zu müssen! Ihre gesamte Ausbildung – sechs Jahre in Theorie und Praxis – wurde ihnen gratis gewährt dank der Großzügigkeit der kubanischen Gesellschaft.
Man fragt sich unwillkürlich: Wie kann es sein, daß einem so kleinen und relativ armen Land wie Kuba mit weitaus bescheideneren Ressourcen dies möglich ist, während das reichste Land der Erde – das wohl mächtigste und wohlhabendste Imperium seit dem Untergang des Römischen Reiches – dazu angeblich nicht in der Lage sein soll? Die Antwort ist einfach: Es liegt nicht daran, daß die USA das nicht leisten könnten, sondern sie wollen es nicht und sehen keine Notwendigkeit, daran etwas zu ändern. Käme es zu einem Engpaß auf der Ebene von Ärzten und medizinischem Fachpersonal, dann würden sie sich diese Kräfte einfach aus anderen Ländern holen und, falls nötig, dazu auch die Einwanderungsgesetze lockern, um die erforderlichen Experten anzulocken.
Daß Kuba mit seinem Bildungssystem anders umgeht, grenzt gerade angesichts seiner ökonomischen Probleme, die vor allem Resultat des jahrezehntelangen US-Embargos sind, an ein Wunder. Der Punkt ist, daß in Ländern wie den USA Studierende als fette Milchkühe angesehen werden, die man nach Belieben melken kann, um das engverzahnte System aus Banken und Bildungsindustrie florieren zu lassen. Kuba aber begreift menschliches Wissen als Reichtum, der der ganzen Menschheit gehört und nicht zu einer Ware gemacht werden darf, um daraus Profite zu schlagen.
Als die Absolventen ihre medizinischen Hochschulen in Kuba verließen, nahmen sie nur eine »Schuld« im Sinne einer moralischen Verpflichtung mit auf ihren weiteren Lebensweg: Ihr Wissen und ihre praktischen Erfahrungen in den Dienst der Armen dieser Welt zu stellen.
Übersetzung: Jürgen Heiser