Erste Erklärung des Internationalen Komitees zur Abschaffung der Todesstrafe (ICADP)

02.07.06 (von ivk) Am 2. Juli 2006 jährte sich zum dreißigsten Mal die Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA. Das von Prof. Angela Y. Davis und Rechtsanwalt Robert R. Bryan mitbegründete ICADP wendet sich mit einem Appell an die internationale Öffentlichkeit

Erste Erklärung des Internationalen Komitees zur Abschaffung der Todesstrafe

»Wir fordern ein nationales Moratorium für die Todesstrafe in den USA und die sofortige Freilassung von Mumia Abu-Jamal aus der Todeszelle!«


30 Jahre Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA
Vor 30 Jahren, am 2. Juli 1976, wurde die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten von Amerika wiedereingeführt. Vier Jahre lang war die Gesetzgebung der Todesstrafe zuvor außer Kraft gesetzt gewesen, weil der Oberste Gerichtshof der USA, am 29. Juni 1972, aufgrund der Klage 408 U.S. 238 (1972) des Todeskandidaten Furman gegen den Bundesstaat Georgia in einem 5-zu-4-Urteil entschieden hatte, daß diese Gesetze willkürlich und diskriminierend seien und deshalb den 8. Zusatz zur US-Verfassung verletzten, der »grausame und ungewöhnliche« Strafen verbietet. Die Furman-Entscheidung erklärte mehr als 600 Todesurteile für nichtig. Dennoch wurde damit die Todesstrafe nicht generell abgeschafft, weil nur zwei der Obersten Richter, William Brennan und Thurgood Marshall, die Todesstrafe insgesamt ablehnten. Infolgedessen verabschiedete die Mehrheit der US-Bundesstaaten neue Gesetze, damit künftige Todesurteile nicht mehr als Verletzung der Verfassung definiert werden könnten.
Dieser vorübergehende Sieg über die Todesstrafe war der juristische Ausdruck der gesellschaftlichen Umbrüche der 1960-70er Jahre, vor allem des Aufbegehrens der afroamerikanischen Bevölkerung gegen Armut und Rassismus und ihres Kampfes für Bürger- und Menschenrechte.

Todestrakte und industrieller Gefängniskomplex
An dieser Situation hat sich seit der Wiedereinführung der Todesstrafe durch dasselbe Gericht am 2. Juli 1976 mit dem Urteil Gregg gegen Georgia, 428 U.S. 153 (1976), im wesentlichen nichts geändert. Mit dieser Entscheidung wurde die neue Todesstrafengesetzgebung gebilligt. Heute sind die US-Todestrakte voller denn je, und nach wie vor sind Hautfarbe und Armut die vorherrschenden Kriterien bei der Frage, wer im Todestrakt oder im Gefängnis landet und wer nicht.
Seit 1975 ist die Kriminalitätsrate in den USA konstant geblieben, in einigen Bereichen sogar gesunken. Trotzdem hat sich die Inhaftierungsrate in den USA in diesem Zeitraum vervierfacht, und die Rate der verhängten Todesurteile und der vollzogenen Hinrichtungen ist enorm angestiegen. Die Todesstrafe wird auf diskriminierende Weise angewendet. Sie ist Gesetz im Bundesgefängnissystems und in 38 von 50 US-Bundesstaaten. Die Todestrakte sind überproportional mit Gefangenen belegt, die arm sind und Minderheiten angehören und die oft nur über eine unzureichende und fragwürdige Verteidigung verfügen. DNA-Tests und andere Beweismittel belegen in zunehmendem Maße, daß viele Todeskandidaten zu unrecht verurteilt wurden und bestärken damit den Verdacht, daß der Staat Menschen tötet, die nicht »schuldig im Sinne der Anklage« sind. Viele Gefangene gingen in den Tod und beteuerten bis zum letzten Atemzug ihre Unschuld. Über 122 Todeskandidaten mußten freigelassen werden, weil DNA-Tests oder andere Beweise ihre Unschuld bestätigten - einige von ihnen erst nach vielen qualvollen Jahren, in denen sie täglich auf ihren Henker warteten.
Diese Gefangenen, die den Todestrakt überlebten, haben öffentlich ihre warnenden Stimmen erhoben: Ihr Schicksal zeigt, daß die Dunkelziffer der unschuldig hingerichteten Männer und Frauen um ein Vielfaches höher sein muß. Aber vor allem erinnern uns ihre Stimmen daran, daß »verurteilt« noch lange nicht «schuldig« bedeutet und Jurys Fehlurteile fällen.
Es ist kein Wunder, daß auf jeden studierenden Afroamerikaner fünf kommen, die im Gefängnis sitzen, wenn die Regierung auf nationaler und lokaler Ebene die Ausgaben für Bildung senkt und für den Bau von neuen Gefängnissen erhöht. Die am schnellsten wachsende Gefangenengruppe sind schwarze Frauen. Mehr als 70 Prozent aller Gefangenen sind Afro- und Latino-Amerikaner. Die Gefangenen werden einer Situation absoluter Entrechtung und Ausbeutung unterworfen. In 46 US-Bundesstaaten verlieren Bürger ihr Wahlrecht, wenn sie wegen eines Verbrechens verurteilt sind. In 32 Staaten erhalten Verurteilte das Wahlrecht erst nach dem Ende der Bewährungszeit zurück. In 10 Staaten verlieren Bürger, die wegen eines Verbrechens verurteilt wurden, ihr Wahlrecht sogar auf Lebenszeit. Dies hat zur Folge, daß 13 Prozent der afroamerikanischen Bürger im Wahlalter auf Dauer ihr Wahlrecht verlieren.
Der industrielle Gefängniskomplex ist inzwischen ein wesentlicher Bestandteil der US-Wirtschaft. Die Ausbeutung im industriellen Gefängniskomplex bietet dem Privatkapital lukrative Investitionsmöglichkeiten, deren niedrige Kosten nur mit Billiglohnländern der »Dritten Welt« vergleichbar sind. Mit dem 13. Zusatzartikel zur US-Verfassung wurde die Sklaverei und Zwangsarbeit abgeschafft, »ausgenommen als Strafe für ein Verbrechen aufgrund eines rechtmäßigen Urteils«. Allein die Privatgefängnisse mit ihren über 100.000 Gefangenen erzielen einen jährlichen Umsatz von 40-50 Milliarden US-Dollar. Mit dem industriellen Gefängniskomplex ist in der US-Gesellschaft eine neue Segregation entstanden, deren Kern eine moderne Form der Sklaverei darstellt.

Verletzung der Menschenrechte, Bruch des Völkerrechts
Die Situation der über 3500 Gefangenen in den Todestrakten und der mehr als zwei Millionen Gefangenen im industriellen Komplex der Bundes-, Staats- und Privatgefängnisse ist ein Ausdruck der Zuspitzung der sozialen und politischen Widersprüche in den USA zu Lasten der Armen und Minderheiten. Sie sind zu Sündenböcken einer Nation geworden, deren Rechtsprechung von einer Lynch-Mob-Mentalität geprägt wird.
Während die US-Regierung unter dem Vorwand des »Krieges gegen den Terror« und unter Bruch des Völkerrechts ihre Macht- und Einflußzonen und den Raub der Energieressourcen im Ausland militärisch sichern, hat im Inland eine Tochterfirma von Halliburton im Juni 2006 vom Heimatschutzministerium den Auftrag erhalten, für 385 Millionen US-Dollar »provisorische Gefangenenlager« zu errichten. Diese Lager könnten im Falle der Verhängung des Kriegsrechts im Innern dazu dienen, US-Bürger zu internieren. Eine Art Guantánamo-Lager für die »Heimat«, in denen für Gefangene weder Bürger- noch Menschenrechte gelten.

Erster Schritt: ein Moratorium
Die Todesstrafe muß abgeschafft werden! Sie ist barbarisch, inhuman und grundsätzlich unangemessen, selbst wenn Fehlurteile und Diskriminierungen ausgeschlossen werden könnten.
Als ersten Schritt fordern wir deshalb ein nationales Moratorium der Todesstrafe. Von 38 US-Bundesstaaten, in denen die Todesstrafe Gesetz ist, haben 12 ihre Anwendung durch ein Moratorium ausgesetzt. Von weiteren wird dies erwogen.
Als Indikator für die Dringlichkeit der Forderung nach einem Moratorium mag gelten, daß der Oberste Gerichtshof in seinem jüngsten Urteil einem Gefangenen in Florida das Recht zugesprochen hat, die Hinrichtungsmethode mit der Giftspritze durch eine Klage wegen Verletzung seiner Bürgerrechte anzugreifen. Streitgegenstand ist der Vorwurf, die Hinrichtung mit der Giftspritze verursache »unnötige Schmerzen«. Mehrere US-Bundesstaaten mußten deshalb wegen der qualvollen Methode, mit der der Staat seine Opfer tötet, Hinrichtungen aussetzen.
In Europa haben die Erfahrungen mit dem Staatsterror während des deutschen Faschismus dazu geführt, daß nach dem Zweiten Weltkrieg mehr und mehr Staaten die Abschaffung der Todesstrafe zum Verfassungsgrundsatz erhoben haben. Auch die USA können durch den massiven Druck einer nationalen und internationalen Basisbewegung dazu gezwungen werden, diesen Schritt endlich zu vollziehen.

Freiheit für Mumia Abu-Jamal
Der Journalist und Autor Mumia Abu-Jamal aus Philadelphia, dem ein faires Verfahren verweigert wurde, ist einer der Gefangenen, die unschuldig in der Todeszelle sitzen. Wenn ihm endlich ein neues und faires Verfahren mit einer hochkarätigen Verteidigung garantiert würde, wie es eine internationale Kampagne seit mehr als zwei Jahrzehnten fordert, dann wäre das Ergebnis sicher ein völlig anderes. In den 25 Jahren seiner Haft hat er nicht nur einen mutigen Kampf für ein neues Verfahren, sondern generell gegen die Todesstrafe geführt. Mit seinen Schriften und Hörfunkbeiträgen gegen die Todesstrafe, gegen Unrecht, Rassismus und Krieg ist Mumia Abu-Jamal zu einem anerkannten Autor und Sprecher all jener geworden, die sich diesen Überbleibseln der Barbarei widersetzen. Wie kein zweiter hat Mumia Abu-Jamal dem Kampf gegen die Todesstrafe ein Gesicht gegeben. Er ist zu einem wichtigen Symbol dieses Kampfes geworden und darf deshalb nicht jenen Kräften ausgeliefert bleiben, die seine Hinrichtung in einen Sieg über alle Gegner der Todesstrafe verwandeln wollen. Wir stehen deshalb fest an seiner Seite und fordern mit ihm ein neues und faires Verfahren und seine sofortige Freilassung aus dem Todestrakt.

Verwandeln wir den 2. Juli in einen Tag, der uns in jedem Jahr an die Notwendigkeit der endgültigen Abschaffung der Todesstrafe erinnert - bis wir sie und ihre Befürworter überwunden haben. Bringen wir den Obersten Gerichtshof dazu, seinen Job zu Ende zu bringen.
Wir fordern deshalb alle Basisbewegungen, demokratischen Kräfte und Verteidiger der Menschenrechte und des Völkerrechts weltweit dazu auf, diese Forderungen unüberhörbar öffentlich zu erheben:
Abschaffung der Todesstrafe in den USA und weltweit!
Sofortige Freilassung von Mumia Abu-Jamal und Garantien für ein neues faires Verfahren!

2. Juli 2006

USA:
Prof. Angela Y. Davis, Santa Cruz / Robert R. Bryan, Rechtsanwalt, San Francisco / Charlene Mitchell, Stellv. Vorsitzende Committees of Correspondence for Democracy & Socialism /
Frankreich:
Henri Alleg, Journaliste-Autor, Palaiseau / Gilberte Salem, Übersetzerin, Palaiseau /
Deutschland:
Detlef Baade, Betriebsrat; Rolf Becker, ver.di Hauptvorst. HH; Prof. Dr. Lothar Bisky, Parteivors. Linkspartei.PDS, MdB; Dr. Oliver Brüchert, Soziologe; Peter O. Chotjewitz, Autor; Sevim Dagdelen, MdB; Dr. Diether Dehm, MdB; Prof. Wolfram Elsner, Ökonom; Christiane Ensslin, Redakteurin; Prof. Dr. Johannes Feest, Strafvollzugsarchiv Uni HB; Claus Förster, Rechtsanwalt; Christian Geissler, Autor; Peter Gingold, Bundessprecher der VVN-BdA, Vize-Vors. d. Auschwitzkomitees; Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Präsident Internat. Liga f. Menschenrechte; Victor Grossman, Journalist; Lühr Henken, Bundesausschuß Friedensratschlag; Ulla Jelpke, MdB, Innenp. Sprecherin Die Linke; Walter Kaufmann, Autor; Sabine Klein-Schonnefeld, Soziologin/Juristin; Sabine Kruse, Erich-Mühsam-Gesellschaft; Oskar Lafontaine, MdB, Fraktionsvorsitzender d. Linkspartei; Felicia Langer, Rechtsanwältin; Herbert Leuninger, Pfarrer, Mitbegr. PRO ASYL; Willi van Ooyen, Vors. d. Friedens- und Zukunftswerkstatt; Ulf Panzer, Richter, IALANA; Norman Paech, Völkerrechtler, MdB; Sabine Peters, Autorin; Erhard Pumm, DGB-Vorsitzender HH; Prof. Dr. Werner Ruf; Horst Schäfer, Journalist; Horst Schmitthenner, Beauftragter d. Vorstandes d. IG Metall; Dr. Heinz Jürgen Schneider, Rechtsanwalt; Wilfried F. Schoeller, Generalsekretär d. P.E.N.-Zentrums Deutschland; Prof. Dr. Herbert Schui, MdB; Eckart Spoo, Journalist; Dr. Martin Stankowski, Journalist; Johano Strasser, Präsident des P.E.N.-Zentr. Deutschl.; Dr. Peter Strutynski, Bundesausschuß Friedensratschlag; Reinhard Thiele, Cuba Sí-AG der Linkspartei.PDS; Mag Wompel/Ralf Pandorf, Redaktion LabourNet; Winke Zitzlaff, Rektorin i.R.

Kontakt:
Internationales Komitee zur Abschaffung der Todesstrafe/
International Committee to Abolish the Death Penalty (ICADP)
c/o IVK Bremen
P.O.Box 150530
D-28095 Bremen
Fon: (421) 354029
Mobil/cell: 0174-972 99 29
eMail: ivk@freedom-now.de

Website: www.freedom-now.de (hier ist die »Erste Erklärung« auch in französischer und englischer Sprache zu finden)

Die Verteidigung braucht dringend Spenden
(Aktueller Aufruf im Internet: http://www.freedom-now.de/news/artikel313.html)

Spendenkonto for BR Deutschland und umliegendes europäisches Ausland:
Unter dem Stichwort »Verteidigung« Spenden bitte an:

Archiv 92/Sonderkonto Jamal
S.E.B. Bank Bremen
Konto-Nr. 100 8738 701 (BLZ 290 101 11)
(Überweisungen aus EU-Ländern:
IBAN DE78 2901 0111 1008 7387 01 - BIC: ESSEDDE5F290)


Ausdruck von: http://freedom-now.de/news/artikel322.html
Stand: 24.11.2024 um 07:12:16 Uhr