Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr.29, 4./5. Februar 2006
In der wechselvollen Geschichte der Menschheit haben Herrschende zum Schutz ihres Landes Barrieren gegen gefürchtete Fremde gebaut, die ihren Frieden bedrohen könnten. Nur wenigen Gesellschaften ist es gelungen, solch mächtige Grenzbauwerke zu errichten wie die chinesische Große Mauer, deren Bau unter der Herrschaft Kaiser Qin Shihuangdis im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung begonnen wurde. In einem Zeitraum von tausend Jahren wurde sie ständig erweitert und erneuert. Die Mauer sollte dazu dienen, das chinesische Reich gegen die »Horden« der Reiternomaden aus dem Norden zu verteidigen. Doch war sie letztlich von keinem großen militärischen Nutzen, denn das Land wurde trotzdem immer wieder von den mongolischen Armeen überfallen.
In der Spätphase des Römischen Reiches ließ Imperator Hadrian in Fortführung des Obergermanisch-Rätischen Limes eine gigantische Grenzanlage in Britannien bauen, die die nördlichen Grenzen des Reiches markieren sollte. Im Nahen Osten wird eine Mauer aus Beton und Stahl errichtet, um die palästinensischen Gebiete abzutrennen. Die israelische Regierung nennt das Bauwerk einen Schutzwall, die Palästinenser sagen »Apartheid-Wall« dazu. Und die US-Regierung ist gerade dabei, ihren Plan zum Bau einer Hightech-Grenzanlage auf der vollen Länge der Staatsgrenze zwischen den USA und Mexiko beschleunigt umzusetzen!
Grenzwälle sind eigenartige Bauwerke, denn obwohl ihre Erbauer sie als Beweis der Macht des jeweiligen Staates werten, werden sie dem entgegen oftmals nicht als Symbole der Macht, sondern als Vorboten des Zusammenbruchs angesehen. In ihnen zeigt sich die Furcht und nicht das Selbstvertrauen einer Nation. Die Qin-Dynastie trachtete danach, verschiedene Volksgruppen zu vereinen und begann damit einen Prozeß, der auf viele Generationen ausgelegt war. Aber die verhaßten Feinde, die ungestümen Mongolen aus dem Norden, griffen die Chinesische Mauer an, überrannten sie, umgingen sie, und nach der Eroberung ganz Chinas durch die Heere Kubilai Khans hielten sie sich mehr als ein Jahrhundert auf dem imperialen Thron im Herzen Chinas.
Das Imperium Romanum hat seinen Ursprung in einer Stadt, die fremde Besucher einst willkommen hieß und sich beim Aufbau des Stadtstaates bereitwillig von den vielfältigen Ideen der Besucher inspirieren ließ. Hadrians Grenzwall in Britannien markierte das Ende der imperialen Expansion und den Wunsch, den akkumulierten Reichtum und die Privilegien im Innern des Reiches vor den außerhalb lebenden hungrigen »Horden« zu bewahren. Rom, einst die Hauptstadt des mächtigsten aller Imperien, stürzte in seinen Niedergang und, wie seine Eroberung durch den gotischen König Alarich I im Jahr 410 zeigt, seine Grenzbefestigungen boten keinerlei Schutz dagegen.
Die Chinesische Mauer war 6500 Kilometer lang, Hadrians Wall 100. Der israelische Grenzwall soll eine ganze Region umschließen, und die Grenzanlage zwischen den USA und Mexiko eine Länge von 3000 Kilometer erreichen. All diese Mauern, Wälle und Grenzzäune, egal wie groß sie auch sein mögen, versinnbildlichen die Furcht vor den Fremden. Und: Sie symbolisieren das Ende und den Niedergang von Nationen und Imperien und nicht etwa ihre Ausdehnung und ihre Stärke.
Die Ereignisse des 11. September 2001 lösten unter vielen Bürgern der USA Wellen der Angst aus. In Zeiten großer Konflikte sterben nationale Mythen oft zuerst. Die Vorstellung, daß die USA ein offenes Land sind, das die Menschen der Welt willkommen heißt, ist einer dieser Mythen, der in rascher Auflösung begriffen ist. Ausländer, vor allem jene aus islamischen Ländern, müssen sich nun andere Gastgeberländer suchen, wo sie studieren, arbeiten und leben können. Sie haben verstanden, daß die Inschrift im Granitsockel der Freiheitsstatue, das Gedicht von Emma Lazarus, sich nicht auf sie bezieht. Die jüdische Dichterin schrieb 1883 als Motto der Freiheitsstatue die Worte: »Gib mir deine müden, deine armen, deine niedergedrückten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen.«
Auch die Freiheitsstatue steht bloß auf einem von Menschen erbauten Mauerwerk.
Übersetzung: Jürgen Heiser