Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr.116, 22./23. Mai 2004
Exakt am vergangenen Montag, dem 19. Mai, jährte sich zum fünfzigsten Mal jener Tag, an dem im Gerichtsverfahren »Brown gegen Bildungsbehörde« eine Grundsatzentscheidung gefällt wurde, die damit den Rang eines Gesetzes erhielt: Die Rassentrennung im öffentlichen Schulsystem wurde mit diesem Urteil für ungesetzlich erklärt und eine Integration der schwarzen Jugend »mit besonnenen Schritten« angeordnet.
Doch obwohl seitdem amtlich war, daß die Rassentrennung gegen die Verfassung verstößt, bestand die Schülerschaft in den Grund-, Mittel- und Oberschulen, die ich selbst besuchte, zu 95 Prozent - manchmal bis zu 98 Prozent - aus Schwarzen. Weiße, egal ob als Lehrer oder Schüler, blieben vorerst eher die Ausnahme.
Jahre später stellte ich fest, daß das Brown-Urteil nicht wegen der Notwendigkeiten auf dem Bildungssektor oder wegen der Verletzung der Rechte schwarzer Bürger ergangen war, sondern aus ideologischen Gründen. Die US-Regierung wollte sich vor allem gegenüber der Dritten Welt mit einem anderen Gesicht zeigen. Denn damals waren gerade dort weite Teile der Bevölkerung entsetzt über die Bilder von dunkelhäutigen Menschen, die von rassistischen Polizisten brutal mißhandelt wurden, nur weil sie sich für eine angemessene Bildung einsetzten.
1952 sandte der damalige US-Außenminister Dean Acheson ein Schreiben an das Oberste Bundesgericht in Washington DC, in dem er feststellte, daß »die fortgesetzte rassische Diskriminierung eine Quelle dauernder Peinlichkeit für diese Regierung darstellt ... und die effektive Aufrechterhaltung unserer moralischen Führerschaft der freien und demokratischen Nationen der Welt aufs Spiel setzt.« (Lerone Bennett, »Confrontation: Black and White«, Penguin 1965, S. 187-88)
Das Brown-Urteil war ein Propagandasieg, der rhetorische Angriffe der kommunistischen Staaten kontern sollte, in denen die USA als gewalttätiges, rassistisches Land kritisiert wurden.
Seit dem Urteil sind fünfzig Jahre vergangen, doch von Küste zu Küste, von Nord bis Süd herrscht in den Ghettoschulen eine unveränderte Rassentrennung. Nicht mehr auf gesetzlicher Grundlage, sondern ungebrochen durch die konkrete Parxis der Klassengesellschaft. Die Schulen sind geprägt von der allgemeinen Armut, ausgestattet mit spärlichen Ressourcen und einem Lehrkörper aus zunehmend schlechter ausgebildeten, schlecht bezahlten und demoralisierten Lehrerinnen und Lehrern, konfrontiert mit einer Perspektive geringer Bildungsergebnisse.
Das Brown-Urteil mag Einzug in die Gesetzesbücher gefunden haben, aber im alltäglichen Leben von Millionen dunkelhäutigen Kindern ist es bedeutungslos. Der brillante Rechtswissenschaftler Derrick Bell hat schon vor langem erklärt, das Brown-Urteil repräsentiere ein bestechendes Beispiel von dem, was er »Interessen-Konvergenz« nennt. Mit anderen Worten: eine Angelegenheit, bei der Schwarze nur dann Vorteile erlangen können, wenn sie zuerst den Weißen nützen. Demgemäß verloren fast die Hälfte der schwarzen Lehrer ihre Jobs, vor allem im Süden. An ihrer Stelle wurden Weiße eingestellt, und es entstanden in der Folge des Brown-Urteils viele Privatschulen, die von Weißen gegründet wurden, um sich diesem Urteil zu widersetzen.
Für Schwarze sind die Schulen heute Einrichtungen, die sie auf ein Leben in den Gefängnissen vorbereiten. Der Schriftsteller Jonanthan Kozol hat eindrucksvoll und bewegend über die erbärmlichen Zustände an den städtischen Schulen geschrieben, die für Schwarze und Braune finstere Horte gesellschaftlicher Ablehnung sind. In Wirklichkeit hat sich nur wenig verändert. Die politische Elite zeigt sich in Wahlkämpfen gern öffentlich mit Kindern, herzt und küßt sie oder spricht salbungsvolle Worte über »unsere Kinder«, wenn die Rede auf sie kommt, aber die öffentlichen Schulen sind weder Orte des Lernens noch der Zuflucht, sondern der gesellschaftlichen Ächtung und Abweisung.
Die Zustände an diesen Schulen und ihr Mangel an ausreichenden Ressourcen reflektieren die traurige Wahrheit, daß sie Teil eines Krieges sozialer Ignoranz und Vernachlässigung gegen diese Kinder und ihre Zukunft sind. Sie sind junge Bürgerinnen und Bürger, die man gefahrlos ignorieren kann, weil sie keine Stimme und kein Wahlrecht, also keine Interessenvertretung in diesem System haben. Man erwartet nichts mehr von ihnen. Sie werden den rauhen Randzonen der Ghettos überlassen, wo die Cash-Ökonomie des »Jeder-gegen-jeden« herrscht und sie um ihr bloßes Überleben kämpfen müssen.
Lassen wir also die Bourgeoisie und die schwarze Mittelschicht ihr »Brown-Urteil« feiern. Wir anderen sollten nicht viel Aufhebens darum machen.
Übersetzung: Jürgen Heiser