Kolumne 20.09.03: Amerikanischer Alptraum

21.09.03 (von maj) Über 40 Jahre nach dem »Marsch auf Washington« hat sich für Schwarze nichts geändert

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 220, 20./21. September 2003

Über 40 lange Jahre sind seit dem oft gerühmten »Marsch auf Washington« vergangen. Fast ein halbes Jahrhundert - und was hat sich an unseren Lebensverhältnissen geändert?
Unsere Stadtteile und Gemeinden leiden unter bedrückender Armut, blasierten Politikern und brutalen Polizisten. Die Schulen unserer Kinder verfallen. Die Konzerne beuten unsere Kultur als »Ghettokultur« aus, während gleichzeitig der Gemeinsinn unter uns stirbt. Die Hip-Hopper rappen Hymnen auf die Möchtegern-»Gangstas«, aber es ist der Staat, der uns mit seinem legalisierten Gangstertum wirklich ausnimmt.
Zu dem Zeitpunkt, als Reverend Martin Luther King in Washington der Menge zurief: »Ich habe einen Traum«, führte das FBI schon einen Geheimkrieg gegen ihn und alle anderen, die den Status quo in Frage stellten. Wenige Wochen nach seiner historischen Rede schmiedeten FBI-Agenten ein Komplott gegen ihn. Sie wollten eine gutaussehende Frau in sein Büro einschleusen, um ihn in einen Sexskandal zu verwickeln. Im Januar 1964 verkündete William Sullivan, die Nummer zwei in der Führung des FBI: »Wir betrachten Martin Luther King als den gefährlichsten und effektivsten Negerführer in diesem Land.«
Sie wollten sich eine »verläßliche« Führungspersönlichkeit unter den Schwarzen aufbauen, um King »zu ersetzen«, weil er in ihren Augen »zu radikal« war. Vier Jahre später wurde er von einem Auftragskiller erschossen.
Reverend King träumte wahrscheinlich von einer Menge Dinge, als er einen Blick in die Zukunft der USA wagte, aber ich bezweifle, daß er die bittere Realität vorhersah, in der wir heute leben. Ich bezweifle, daß er die finstere, triste Zukunft sah, die für Millionen schwarzer Jugendlicher rauher ist alles, was sie aus Filmen wie »Blade Runner« kennen. In der Gesellschaft sind sie bestenfalls geduldet, wenn sie Glück haben. Zu viele von ihnen werden in die stationären Sklavenschiffe verfrachtet, die man heute Gefängnisse nennt. Dort herrschen Ignoranz und Rassismus, und Brutalität und Hoffnungslosigkeit sind die Norm. Und für sie hat »Bruder« Bill Clinton (den jemand mal den »ersten schwarzen Präsidenten« nannte) 1994 das »Verbrechensbekämpfungsgesetz« erlassenen, in dem Bildung und Ausbildung in der Haft quasi für illegal erklärt werden.
Wir sind 40 Jahre weiter - und Gefängnisse werden mehr und mehr zum einzigen Ort, an dem Schwarze noch so etwas wie öffentlich finanzierten sozialen Wohnraum vorfinden. 40 Jahre weiter - und Todestrakte im Süden und auch im Norden der USA sind überpropotional mit schwarzen Gefangenen belegt. 40 Jahre weiter - und immer noch schicken weiße Richter und weiße Geschworene schwarze Angeklagte für Ewigkeiten in die Hölle der Gefängnisse. 40 Jahre weiter - und immer noch mißhandeln weiße (und nun auch schwarze) Polizisten schwarze Jugendliche, verprügeln sie, betäuben sie mit Schockwaffen, erschießen und foltern sie - Jungen und Mädchen -, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. 40 Jahre weiter - und obwohl es mittlerweile Tausende Schwarze gibt, die in die Politik gegangen sind, haben Schwarze immer noch keine politische Macht, und die Ursache dafür liegt auch in der Politik der Demokratischen Partei, die viel verspricht, aber nur wenig hält.
Florida hat es im Herbst 2000 gezeigt: auch wenn es ein Wahlgesetz gibt, haben Schwarze noch lange kein Wahlrecht. Die Verabschiedung dieses Wahlgesetzes mag ein Höhepunkt in Reverend Kings Bürgerrechtskampf gewesen sein, aber für Zehntausende Schwarze ist es nicht mehr als ein Stück Papier.
Unter den Bedingungen einer ins Trudeln geratenen Wirtschaft lassen sich Tausende Schwarze, junge Männer und Frauen, vom Militär rekrutieren, aber nicht etwa, weil sie wirklich in den Krieg ziehen wollen, sondern weil sie hoffen, in der Armee eine anständige Collegeausbildung finanziert zu bekommen, die sie sonst nicht bezahlen könnten. Doch statt dessen macht man Kanonenfutter für abgedrehte Propagandakriege wie das Irak-Abenteuer aus ihnen. Sie geben ihr Leben für ein Imperium, das sich einen Dreck um sie schert.
Nun sind wir also 40 Jahre weiter, und das schwarze Amerika, das einst ein Quell der Hoffnung war, ist zu einem Meer der Verzweiflung geworden. Es reicht nicht, daß wir zusammenkommen und die Vergangenheit schönreden. Wir sind gefordert, die Menschen zu mobilisieren, um unsere negative und tödliche Gegenwart zu verändern. Es reicht nicht, daß wir die Siege beklatschen, die wir früher errungen haben. Wir sind gefordert, die Menschen zu mobilisieren, um die Kämpfe zu führen, die heute anstehen. Es reicht nicht, wenn wir in Washington ein Denkmal an der Stelle errichten, wo vor 40 Jahren eine wichtige Rede gehalten wurde. Denkmäler geraten wieder in Vergessenheit, wenn die neue Generation nicht mehr weiß, was vor ihr passiert ist. Aber diese Generation kann nichts dafür, daß sie den »amerikanischen Traum« nicht mehr sieht. Der übermächtige »amerikanische Alptraum« versperrt ihr die Sicht. Wenn die jungen Schwarzen ihren Blick schweifen lassen, dann sehen sie ein Land, das äußerst scharf darauf ist, sie auszubeuten, das aber nie gelernt hat, ihnen mit Liebe und Respekt zu begnen. Sie schauen auf dieses Amerika, das sich weigert, ihnen eine anständige Bildung zu vermitteln, aber keine Gelegenheit ausläßt, sie ins Gefängnis zu stecken. Sie schauen auf dieses Amerika, das sich ihnen gegenüber so feindlich verhält wie es das schon gegenüber ihren Vorfahren vor 40 Jahren tat, die Baumwollpflücker und arme Pachtbauern waren und kein Wahlrecht kannten. Ihre heutigen Nachfahren leiden vor allem unter geistiger Verarmung. Sie schauen 40 Jahre zurück in die Nebelschwaden der Vergangenheit und fragen sich: was gibt es da zu feiern?

Übersetzung: Jürgen Heiser


Ausdruck von: http://freedom-now.de/news/artikel241.html
Stand: 29.03.2024 um 06:36:01 Uhr