Link zum Artikel in junge Welt Nr. 277 vom 28. November 2022: Bitte HIER klicken![1]
Appell an Richterin
Im aktuellen Rechtsstreit um abgelehnte Berufungsanträge des inhaftierten US-Bürgerrechtlers Mumia Abu-Jamal zeigt sich nach dem jüngsten Bericht seines Enkels Jamal Hart Jr. ein krasser Widerspruch. Am 26. Oktober hatte Richterin Lucretia Clemons vom Common Pleas Court in Philadelphia angekündigt, sie beabsichtige, »den Antrag des Angeklagten auf Wiederaufnahme des Verfahrens ohne mündliche Verhandlung abzulehnen«.
Der US-Journalist Dave Lindorff charakterisierte die afroamerikanische Richterin in jW vom 14. November als eine Juristin, deren berufliche Karriere sie durch das neoliberale Management der Gastronomiewirtschaft und nach ihrem Jurastudium durch gewerkschaftsfeindliche Anwaltskanzleien führte. Es sollte einen also nicht verwundern, so Lindorff sinngemäß, dass sie sich nicht wie selbstverständlich auf die Seite eines vom US-Rechtssystem geschundenen Schwarzen und politischen Gefangenen stellt.
Wie Abu-Jamals Enkel am vergangenen Donnerstag im jüngsten Newsletter des kalifornischen Prison Radio berichtete, gibt es jedoch bei Richterin Clemons noch eine ganz andere Seite, die verblüffen mag. Sie ist als praktizierende Katholikin Mitglied der »Kommission für Rassengerechtigkeit und Heilung« der Erzdiözese Philadelphia. Deren Zweck sei laut Bischof John McIntyre, »die Sünde des Rassismus im Licht des Evangeliums unseres katholischen Glaubens zu betrachten und dann zu sehen, wo es uns gelungen ist, das Problem anzugehen, und wo nicht und wo wir noch Fortschritte machen müssen«.
Erstaunen löste Lucretia Clemons nun mit dem kürzlich bekannt gewordenen sechs Minuten langen Video »Die Wunden des Rassismus heilen« aus, mit dem sie sich persönlich zur Arbeit in der Kommission bekannte. Sie erzählt darin die Geschichte ihrer Vorfahren in Mississippi und legt dar, welche furchtbaren Erfahrungen ihre Großeltern mit dem alltäglichen Rassismus machen mussten. Ihr Urgroßvater wurde vom Ku-Klux-Klan ermordet, was die Familie in extreme Armut stürzte. Clemons folgert daraus, wenn man in der Lage sei, »etwas Unrechtes zu verhindern, dann muss man es tun«. Die Kommission müsse sich deshalb »in ihrer Arbeit auf Wahrheit und Versöhnung konzentrieren«. Aus dem oft auf Demonstrationen skandierten Ruf »Ohne Gerechtigkeit kein Friede!« leitet Clemons ab: »Frieden erfordert Gerechtigkeit, und Gerechtigkeit erfordert Wahrheit.«
Jamal Jr. warf nun die Frage auf, wieso Richterin Clemons vor dem Hintergrund ihrer im Video geäußerten Einsichten nicht seinem eigenen Großvater Gerechtigkeit widerfahren lässt. Bevor die Richterin am 16. Dezember im Gericht womöglich endgültig die Ablehnung von Abu-Jamals Wiederaufnahmeantrag erklärt, möchte Jamal Jr. sie umstimmen und appellierte an ihre mahnenden Worte im Video, dass es »niemals zu spät ist, das Richtige zu tun«.
Jamal Jr. bittet möglichst viele aus der Free-Mumia-Solidaritätsbewegung, das Video auf https://lovenotphear.com anzuschauen und ihm Stellungnahmen zu Clemons widersprüchlichem Verhalten an die dort genannte E-Mail-Adresse zu schicken. Er werde die Reaktionen dann der Richterin rechtzeitig vor dem Gerichtstermin gesammelt zukommen lassen. Für ihn, so Jamal Jr., erforderten »Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung, dass die rassistische Diskriminierung und das Trauma, das Polizei und Staatsanwälte Mumia zugefügt haben, endlich offen zugegeben und aufgearbeitet« werden. Es sei an der Zeit, betonte Abu-Jamals Enkel, »dass die Gerichte und die öffentliche Meinung diesen historischen Justizirrtum anerkennen und das Unrecht korrigieren, indem sie ihn freilassen«.
Jürgen Heiser