Nicht endendes Unrecht

14.11.22 (von ivk-jw) Neues im Fall Mumia Abu-Jamal. Eine Richterin in Philadelphia hat dessen jüngsten Antrag für die Wiederaufnahme seines Verfahrens abgelehnt - Von Dave Lindorff

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Nicht endendes Unrecht
Neues im Fall Mumia Abu-Jamal. Eine Richterin in Philadelphia hat dessen jüngsten Antrag für die Wiederaufnahme seines Verfahrens abgelehnt
Von Dave Lindorff

Hat der Fall des politischen Gefangenen Mumia Abu-Jamal bei den US-Zwischenwahlen am 8. November eine Rolle gespielt? Indirekt ja, denn der angeblich progressive Chef der Bezirksstaatsanwaltschaft von Philadelphia, Larry Krasner, hatte aus seiner Sicht gute Gründe, ausgerechnet den Fall des vor über 40 Jahren aus rassistischen und politischen Gründen zum Justizopfer gemachten Ex-Black Panthers nicht einer gründlichen Revision zu unterziehen. Der Journalist Dave Lindorff weist im nachfolgenden Artikel nach, dass Krasner Abu-Jamal geopfert hat, um rechten Polizeiverbänden und Law and Order-Politikern keinen Anlass zu geben, die Demokraten in Philadelphia als »Unterstützer eines Cop Killers« zu diffamieren. Das Wahlergebnis bestätigt Krasners Taktik: Joshua Shapiro holte den Gouverneurssitz und John Fettermann knapp den umstrittenen Senatssitz für Pennsylvanias Demokraten. Jürgen Heiser

Am 26. Oktober 2022 bekundete Richterin Lucretia J. Clemons vom Court of Common Pleas in Philadelphia ihre Absicht, die jüngste und vielleicht schwerste Anfechtung des Urteils gegen Mumia Abu-Jamal in vollem Umfang zurückzuweisen. Pennsylvanias bekanntester Gefangener war 1982 wegen Mordes an einem weißen Polizisten verurteilt worden. Unter seinem Geburtsnamen Wesley Cook war er wegen der Erschießung des Polizeibeamten Daniel Faulkner am 9. Dezember 1981 in Philadelphia angeklagt worden.

Der Prozess, der mit einem Todesurteil endete, war von Verfahrensfehlern, Falschaussagen von Polizisten, Korruption der Staatsanwaltschaft und offenkundiger Voreingenommenheit des Richters Albert Sabo geprägt. Abu-Jamal verbrachte fast drei Jahrzehnte in Pennsylvanias überfülltem Todestrakt in Einzelhaft. Die letzten zehn Jahre davon wurde er noch in der Todeszelle festgehalten, obwohl Bundesbezirksrichter William Yohn bereits am 18. Dezember 2001 das Urteil als verfassungswidrig aufgehoben hatte. Das änderte sich erst 2011, als der korrupte ehemalige Bezirksstaatsanwalt Seth Williams endlich seine Berufung gegen Richter Yohns Entscheidung zurückzog und das längst annullierte Todesurteil in lebenslange Haft ohne Bewährung umgewandelt wurde.

Im Laufe der qualvollen Jahre erlangte Abu-Jamals Fall weltweite Aufmerksamkeit. Amnesty International erklärte, der Prozess unterlaufe alle internationalen Mindeststandards eines fairen Gerichtsverfahrens und Abu-Jamal müsse zumindest einen neuen Prozess bekommen – eine scharfe Kritik, die vom US-Rechtssystem und von den meisten US-Medien, insbesondere in Abu-Jamals Heimatstadt Philadelphia, ignoriert wurde.¹

Ein Staatsanwalt räumt auf

2017 schien sich die Lage für Abu-Jamal zu bessern. Die Wählerinnen und Wähler in Philadelphia hatten mit großer Mehrheit Larry Krasner zum Bezirksstaatsanwalt gewählt, einen engagierten Strafverteidiger und ehemaligen öffentlich bestellten Pflichtverteidiger, der in seiner Wahlkampagne versprochen hatte, die seit langem korrupte, offenkundig rassistische und von der Todesstrafe besessene Anklagebehörde der Stadt radikal umzugestalten.

Eine Woche nach seinem Amtsantritt entließ Krasner in einem kühnen und umstrittenen Schritt 31 altgediente Staatsanwälte, die von seinen Vorgängern eingestellt worden waren – etwa zehn Prozent der aktiven Staatsanwälte, darunter auch leitende Mitarbeiter. Außerdem baute er eine zuvor weitgehend unbeachtete Abteilung seiner Behörde weiter aus, das »Conviction Review Office«, und versprach, diese Revisionsabteilung werde frühere, auf Antrag der Bezirksstaatsanwaltschaft ausgesprochene Urteile einer genauen Prüfung unterziehen. Er werde Urteile aufheben lassen, wenn sich herausstellen sollte, dass falsche Aussagen von Polizeizeugen, das Zurückhalten entlastender Beweise durch Staatsanwälte und andere Manipulationen zu Fehlurteilen geführt hätten. In der Folge wurde eine Reihe bedeutender Strafurteile anulliert, wobei die zu Unrecht inhaftierten Opfer entweder sofort freigelassen wurden oder neue Verfahren erhielten, die mit dem Urteil »nicht schuldig« endeten.

Krasner nahm wichtige und umstrittene Reformen in Angriff, so die Abschaffung der Barkaution (»cash bail«), die Abschaffung der Todesstrafe bei Mordfällen und die Annullierung von polizeilichen Zeugenaussagen in Verfahren, in denen Polizisten der Lüge oder der Unterschlagung von Beweisen überführt wurden. Krasner erntete dafür während seiner ersten vierjährigen Amtszeit als reformorientierter Staatsanwalt sowohl in den lokalen Medien als auch vom politisch mächtigen Ortsverband der Polizeibruderschaft (Fraternal Order of Police, FOP) harsche Kritik. Später sah er sich gezwungen, sowohl bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei als auch bei der Wahl für eine zweite Amtszeit ausgerechnet gegen zwei Kandidaten anzutreten, die er zuvor als Staatsanwälte entlassen hatte und die beide in ihrem Wahlkampf von der FOP finanziell unterstützt worden waren. In beiden Fällen gewann Krasner die Wahl mit großem Vorsprung, weil liberale und vor allem schwarze und hispanische Wähler in Philadelphia sich massenhaft an den Wahlen beteiligten, um ihn im Amt zu halten.

Im Falle Mumia gehemmt

Doch die Angriffe auf den populären Bezirksstaatsanwalt gingen weiter: Die von der Republikanischen Partei dominierte Legislative Pennsylvanias prangerte vor den Kongress-Zwischenwahlen 2022 die angeblich »zu nachsichtige Politik der Verbrechensbekämpfung« der Kandidaten der Demokratischen Partei an. Am 8. November sollten im Bundesstaat sowohl das Amt des Gouverneurs als auch ein Sitz im US-Senat neu besetzt werden. Im Wahlkampf stellten die Republikaner das Problem der wachsenden Kriminalität in den Mittelpunkt. Sie unternahmen einen rein »trumpschen« Versuch, Krasner für das, wofür er gewählt worden war, anzuklagen: eine Reform des rassistischen und korrupten Justizsystems, durch das die Gefängnisse Pennsylvanias (und die Todeszellen) mit Gefangenen überfüllt sind. Die meisten stammen aus Bevölkerungsminderheiten und viele von ihnen verbüßen lebenslängliche Haftstrafen.

Wie andere reformorientierte Bezirksstaatsanwälte im ganzen Land ist auch Krasner Ziel heftiger Angriffe. Dieser Umstand erklärt vielleicht (ohne es zu rechtfertigen), warum es einen großen blinden Fleck in seinem Bemühen gibt, die Schandtaten seiner Vorgänger in der Justiz zu bereinigen (von denen der letzte, Bezirksstaatsanwalt Seth Williams, wegen Betrugsdelikten im Gefängnis landete): Mumia Abu-Jamal.

Trotz überwältigender Beweise, dass Mumia Abu-Jamal nie einen fairen Prozess hatte, dass seine Verurteilung durch richterliche Voreingenommenheit, gefälschte polizeiliche Zeugenaussagen und Beweise, Korruption der Staatsanwaltschaft und sogar durch politische Einmischung (u. a. durch das Büro des Gouverneurs) im Laufe der Jahre sabotiert worden ist, veranlasste Krasner zu keiner Zeit, dass seine neu aufgestellte Abteilung »Conviction Review Office« diesen prominentesten Fall aufgreift und überprüft.

Statt dessen wählte Krasner erstaunlicherweise Staatsanwalt Grady Gervino dazu aus, den Fall Abu-Jamals juristisch zu betreuen. Gervino ist einer der altgedienten Juristen, der in jener Zeit Karriere machte, als die Beförderung von Staatsanwälten auf der Zahl der gerichtlichen Verurteilungen beruhte, ganz unabhängig davon, wie sie zustande kamen. Gervino war 2017 nicht von Krasner entlassen worden, sondern weiterhin in genau der Abteilung von Krasners Behörde tätig, die damit betraut ist zu verhindern, dass die Berufungen verurteilter Häftlinge Erfolg haben. Ebendiese Aufgabe fiel ihm zu, als Abu-Jamal nun die Neuverhandlung seiner Berufungsanträge durchsetzen wollte.

Abu-Jamals Antrag zur Wiederaufnahme seines Verfahrens wurde zu einer Angelegenheit von höchster Bedeutung, als Krasner und seine Mitarbeiter Ende Dezember 2018 bei der Suche nach einem neuen Schreibtisch für sein Büro in einem verschlossenen Lagerraum im Gebäude der Bezirksstaatsanwaltschaft sechs große Aktenkartons mit der Aufschrift »Mumia« entdeckten. Sie waren angefüllt mit Dokumenten des Falles, die bis zum Prozess von 1982 zurückreichen. Dokumente, die sogenanntes Brady-Material enthielten, das der Verteidigung definitiv hätte zur Verfügung gestellt werden müssen.² Zu diesen lange verloren geglaubten Dokumenten gehörten u. a. die handschriftlichen Notizen von Prozessstaatsanwalt Joseph McGill, die dieser während der Geschworenenauswahl für den Prozess angefertigt hatte. Darin hatte McGill sorgfältig die ethnische Zugehörigkeit schwarzer Geschworener vermerkte, die er sodann ohne Grund abwies. Außerdem enthielt das Material die Notiz eines wichtigen Zeugen der Anklage, nämlich des weißen Taxifahrers Robert Chobert, worin der sich beschwerte, dass er von der Staatsanwaltschaft nie »das mir zustehende Geld« erhalten habe. (McGill gab später zu, er habe Chobert vor dessen Aussage möglicherweise den Eindruck vermittelt, dass er ihm eine Entschädigung für den durch seine Zeugenaussage entgangenen Lohn zukommen lassen würde. Das sei indes nicht die Praxis des Büros gewesen, so McGill. Er habe auch nicht die Absicht gehabt, dies zu tun).

Die aufgefundenen Kartons, die fortlaufend nummeriert und eindeutig als Teil von insgesamt 31 Kartons mit Mumias Prozessakten gekennzeichnet waren, hätten der Verteidigung im Laufe des Berufungsverfahrens, wenn nicht sogar schon während Mumia Abu-Jamals ersten Prozesses zur Verfügung gestellt werden müssen. Sie waren jedoch offensichtlich von früheren Bezirksstaatsanwälten absichtlich beiseite geschafft worden.

Mehrere Journalisten, darunter auch der Verfasser, haben sich an Krasner gewandt, um auf die zahlreichen Aspekte hinzuweisen, die mehr als nahe legen, dass dieser Fall durch staatsanwaltschaftliches und richterliches Fehlverhalten beinflusst worden ist. Ein Anhaltspunkt dafür ist, dass Chobert den Geschworenen – eindeutig falsch – als rechtschaffener Augenzeuge präsentiert wurde, der (wie Staatsanwalt McGill es in seinem Plädoyer vor den Geschworenen ausdrückte) »keinen Grund hatte zu lügen«. McGill hat zugegeben, dass Chobert vor seiner Aussage als angeblicher »Augenzeuge« den Staatsanwalt privat um Hilfe bei der Wiedererlangung seines Führerscheins gebeten hatte, der ihm wegen Trunkenheit am Steuer entzogen worden war. Diese Bitte, der McGill nach eigenen Angaben nicht nachkam, ist ein klarer Beweis dafür, dass Chobert, der sein Taxi unerlaubt fuhr, als er nach einer fünfjährigen Haftstrafe wegen Brandstiftung in einer Grundschule auf Kaution freigelassen worden war, sich von einer für die Staatsanwaltschaft günstigen Aussage etwas erhoffte. McGill räumte ein, er habe zu Chobert gesagt, er würde sich »die Sache ansehen«. Über dieses klare Motiv Choberts, zum Vorteil der Anklage auszusagen, wurde im Prozess gegenüber den Geschworenen, die über Abu-Jamals Schicksal entschieden, kein Wort erwähnt.

Chobert hat im Laufe der Jahre gegenüber einer Reihe von Personen zugegeben, dass er kein Augenzeuge des Vorfalls war, als auf Abu-Jamal und auf Officer Faulkner geschossen wurde. Nach dem Prozess räumte er ein, dass sein Taxi vom Ort der Schießerei abgewandt in einer Seitenstraße geparkt war und dass er nur »Schüsse gehört«, aber nichts gesehen hatte. Das würde damit übereinstimmen, dass kein anderer Zeuge in der Verhandlung aussagte, dass Choberts oder irgendein anderes Taxi sich an der von der Staatsanwaltschaft behaupteten Stelle befand, nämlich direkt hinter Faulkners Streifenwagen und einem VW-Käfer, der Mumias Bruder Billy Cook gehörte und vor dem die Schüsse fielen. (Zwei Polizeizeichnungen, die auf den Aussagen einer anderen angeblichen Augenzeugin der Schießerei, der Prostituierten Cynthia White, beruhen, zeigen den Streifenwagen, den VW und sogar eine Ford-Limousine vor dem VW, aber kein Taxi hinter dem Streifenwagen. Diese beiden Zeichnungen, von denen eine von Kriminalbeamten aus Philadelphia angefertigt wurde – die andere stammt von einer nicht näher identifizierten Person, die entweder die Zeugin White selbst oder ein sie verhörender Kripobeamter gewesen sein könnte –, sind in meinem Buch »Killing Time: An Investigation into the Death Row Case of Mumia Abu-Jamal« (2003) dokumentiert.

Fotos vom Tatort, die ein Pressefotograf noch vor der Anfertigung der offiziellen Tatortfotos aufgenommen hatte, die aber im Prozess nicht als Beweismittel vorgelegt wurden, zeigen ebenfalls kein Taxi an dem Ort, wo es Chobert laut seiner unter Eid im Prozess geleisteten, aber definitiv falschen Aussage geparkt haben will.

Krasners scheint mit seiner völlig unverständlichen Betrauung von Staatsanwalt Gravino mit der Bekämpfung von Abu-Jamals Wiederaufnahmeantrag absichtlich eine Art »Rache der früheren Bezirksstaatsanwälte« ermöglicht zu haben. Denn Gravino wiederholte in seinen Erklärungen vor Gericht und in seinen Schriftsätzen gegenüber Richterin Clemons dieselben abgedroschenen Unwahrheiten, die schon Krasners Vorgänger vorgebracht hatten, um Abu-Jamals Berufungsbegehren zu blockieren. Statt dessen hätte auch die Staatsanwaltschaft auf eine öffentliche Gerichtsanhörung drängen müssen, um die Zeugen zu den in den Aktenkartons versteckten Dokumenten zu vernehmen.

Verlässliche Richterin

Richterin Clemons, eine 2016 von Pennsylvanias Gouverneur Thomas Wolf (Demokraten) ernannte schwarze Juristin, hat die leicht zu widerlegenden Argumente von Staatsanwalt Gervino gegen eine solche Beweisanhörung widerwillig akzeptiert, gleichzeitig aber alle Bemühungen von Abu-Jamals Verteidigung, diese Prüfung der Beweismittel zu erreichen, zurückgewiesen. Das lässt den Verdacht aufkommen, dass es sich hier um einen weiteren Fall handelt, in dem das gesamte Justizestablishment Philadelphias, das seit Abu-Jamals ursprünglicher Verurteilung vor über 40 Jahren stramm hinter diesem Urteil steht, erneut Abu-Jamals Recht auf ein faires Verfahren mit Füßen tritt.

Der Wiederaufnahmeantrag wurde vor vier Jahren von einem anderen Juristen aus Philadelphia verhandelt, dem Richter Leon Tucker vom Court of Common Pleas. Er war der erste schwarze Jurist, der sich mit Abu-Jamals Fall und den im Laufe von Jahrzehnten auf verschiedenen Ebenen der Staats- und Bundesgerichtsbarkeit gestellten und abgelehnten Berufungsanträgen befasste. Tucker hatte 2018 seine deutliche Kritik über einige der im Wiederaufnahmeantrag aufgeworfenen Fragen zum Ausdruck gebracht. Insbesondere empörte ihn, dass Abu-Jamals erster Berufungsantrag vor dem höchsten Gericht des Bundesstaates von Richter Ronald Castille negativ beschieden worden war, weil der es abgelehnt hatte, sich wegen Befangenheit von den Beratungen über Abu-Jamals Antrag zurückzuziehen. Denn Castille war zuvor Bezirksstaatsanwalt von Philadelphia gewesen, als seine Behörde die Seite der Anklage gegen Abu-Jamal vertrat. Tucker hatte dieses Argument Abu-Jamals in seiner Entscheidung für zulässig erklärt und festgestellt, ein Richter müsse »auch nur den Anschein« von Befangenheit vermeiden, wenn er einen Antrag auf Berufung ablehnt. Castille habe diesem Standard nicht entsprochen.

Tucker, der als Aufsichtsrichter (Supervising Judge) des Strafgerichts von Philadelphia fungierte, als er Abu-Jamals Antrag zu prüfen hatte, wurde von Vorgesetzten auf geschickte Weise davon abgehalten, sich weiter mit dem Fall zu befassen, indem er im vergangenen März auf den Posten des Aufsichtsrichters im Handelsgericht versetzt wurde und Richterin Clemons an seine Stelle trat.

Clemons’ beruflicher Werdegang lässt kaum auf ein leidenschaftliches Engagement für die Aufdeckung von Ungerechtigkeiten im staatlichen oder bundesstaatlichen Justizsystem schließen. Nachdem sie 1993 einen Bachelorabschluss in Hotel- und Restaurantmanagement und 1996 einen Masterabschluss in Diversitätsmanagement an der University of New York erlangt hatte, erwarb sie 1999 an der Temple University einen Juraabschluss. Nach einem Jahr als Referendarin bei Pennsylvanias Bundesbezirksrichter Clifford Scott Green (einem schwarzen Richter und Mitglied der Republikaner) sowie einer zweijährigen Tätigkeit als Assistentin in der Anwaltskanzlei Pepper Hamilton wechselte sie in das Büro der Anwaltskanzlei Ballard Spahr in Philadelphia, wo sie in der Labor and Management Division arbeitete.

Ballard Spahr, eine auf Wirtschaftsrecht spezialisierte Kanzlei, hat in Philadelphia einen Ruf als gewerkschaftsfeindliche Sozietät. Sie berät Unternehmen darin, wie sie die laxe Durchsetzung des Arbeitsrechts auf Bundes- und Landesebene und die geringen Strafen für Verstöße gegen das Arbeitsrecht ausnutzen können, um sich gewerkschaftlichen Organisierungsversuchen zu widersetzen. Ballard Spahr behauptet zwar, Mandanten auch kostenlos (»pro-bono«) im Kampf gegen Rassismus und zum Schutz des Wahlrechts zu vertreten (was viele große Wirtschaftskanzleien tun). Diese Kanzlei ist jedoch sicherlich kein Ort für eine Anwältin, die sich der Bekämpfung des Rassismus bei der Einstellung von Arbeitskräften, der Strafverteidigung oder dem Kampf für Bürgerrechte verschrieben hat. Das gilt insbesondere für die Abteilung, in der Lucretia J. Clemons gearbeitet hat. Sie stand und steht bei Arbeitskonflikten klar auf der Seite der Unternehmensleitungen und nicht auf der Seite der Gewerkschaften.

Clemons’ leichtfertige Zurückweisung der Begründetheit jeder Beschwerde in Abu-Jamals Wiederaufnahmeantrag, unterstützt von Staatsanwalt Gervinos oberflächlichen Einwänden, steht wahrscheinlich mit dem in Einklang, was sie bei Ballard Spahr gelernt hat.

Ein Beispiel für eine solche leichtfertige Abweisung geltender juristischer Ansprüche war Clemons’ Zurückweisung der Beschwerde Abu-Jamals, dass die in den Lagerräumen der Anklagebehörde versteckten Prozessakten Beweise für mögliche Absprachen enthielten, die von der Staatsanwaltschaft getroffen worden waren, um von zwei angeblichen »Augenzeugen« – Chobert und White – belastende Aussagen gegen Abu-Jamal zu erhalten. Clemons begründete ihre Ablehnung mit dem absurden Hinweis, selbst wenn derartige Beweise den Geschworenen vor Gericht vorgelegt worden wären, hätte es keine »hinreichende Wahrscheinlichkeit« gegeben, dass die Jury zu einem anderen Schuldspruch gekommen wäre.

Das heißt, Clemons argumentiert in ihrer schriftlichen Stellungnahme, mit der sie eine Wiederaufnahme von Abu-Jamals Verfahren abzulehnen gedenkt³, dass die hier erwähnten und bislang vor Gericht nicht behandelten Beweise, wären sie von der Verteidigung ins Verfahren eingeführt worden, wahrscheinlich keinen einzigen Geschworenen davon überzeugt hätten, sich gegen eine Verurteilung wegen Mordes auszusprechen. (Für eine Verurteilung wäre ein einstimmiger Schuldspruch der Geschworenen erforderlich gewesen. Das Votum »nicht schuldig« nur eines Geschworenen hätte das Todesurteil verhindert.)

Die Stellungnahme der Richterin entspricht wahrscheinlich kaum dem, was Richter Tucker zu Papier gebracht hätte. Ich vermute auch nicht, dass Clemons selbst eine ähnliche Begründung geschrieben hätte, wenn der Wiederaufnahmeantrag von einem weniger prominenten Insassen des staatlichen Gefängnissystems eingereicht worden wäre.

Die beschämende Ausnahme

Einmal mehr sieht es so aus, als würden wir auf Mumia Abu-Jamals langer und qualvoller Reise durch die korrupte und rassistische »Justiz« Pennsylvanias (englisch »justice« bedeutet sowohl »Justiz« als auch »Gerechtigkeit«; Anm. d. Ü.) Zeugen einer weiteren Manifestation dessen, was Linn Washington, der bekannte schwarze Journalist aus Philadelphia, als die »Mumia-Ausnahme« bezeichnete. Er bezog sich damit auf eine Reihe ablehnender Entscheidungen zu Berufungsanträgen in Abu-Jamals Fall, in denen eindeutige Präzedenzfälle ignoriert wurden, die dann später bei Berufungsbegehren anderer Antragsteller wieder beachtet wurden.

Bezirksstaatsanwalt Krasner sollte sich dafür schämen, dass er diese jüngste juristische Schandtat zugelassen hat. Sie könnte nur korrigiert werden, wenn er Mumia Abu-Jamals Fall endlich seinem Team des »Conviction Review Office« übergeben würde, um ihn einer Überprüfung zu unterziehen, wie er es bei so vielen anderen, weniger prominenten Fällen getan hat, die ebenso von Korruption durchzogen waren und mit Fehlurteilen geendet hatten.

Anmerkungen

1 Siehe: amnesty.org.uk/press-releases/retrial-mumia-abu-jamal

2 »Brady gegen Maryland«, 373 U.S. 83 (1963), war ein Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs der USA, in dem festgelegt wurde, dass die Staatsanwaltschaft alle Beweise, die einen Angeklagten entlasten könnten, an die Verteidigung weitergeben muss.

3 Die von Richterin Clemons am 26.10.2022 veröffentlichte, 31 Seiten umfassende Stellungnahme trägt den Titel: »Mitteilung über die Absicht des Gerichts, den Antrag des Angeklagten auf Wiederaufnahme des Verfahrens ohne mündliche Verhandlung abzulehnen«. Erst nach Ablauf zwei weiterer Fristen von insgesamt 30 Tagen für Stellungnahmen von Verteidigung und Staatsanwaltschaft wird Clemons’ abschließende Entscheidung verkündet und rechtskräftig. Abu-Jamal wird erneut Rechtsmittel einlegen (siehe https://www.jungewelt.de/artikel/437646.free-mumia-31-seiten-gegen-abu-jamal.html).

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Heiser

Der Artikel erschien zuerst im Original am 1. November 2022 auf dem Nachrichtenblog »This Can’t Be Happening!« (thiscantbehappening.net) Wir danken dem Autor für die freundliche Abdruckgenehmigung

Von Dave Lindorff erschien an dieser Stelle zuletzt am 24. Januar 2019 der Artikel »Ein Funken Hoffnung«.


Links im Artikel: 1
[1] https://www.jungewelt.de/artikel/438702.justizunrecht-nicht-endendes-unrecht.html

Ausdruck von: http://freedom-now.de/news/artikel2034.html
Stand: 24.11.2024 um 09:07:08 Uhr