Link zum Artikel in junge Welt Nr. 43 vom 21. Februar 2022: Bitte HIER klicken![1]
Wegen Armut im Knast
In den Gefängnissen von Philadelphia im US-Bundesstaat Pennsylvania sitzt eine wachsende Zahl von Beschuldigten in Haft, obwohl sie keines Verbrechens überführt wurden. Sie gehören mehrheitlich der schwarzen und hispanischen Bevölkerung an und verfügen nicht über ausreichende finanzielle Mittel, sich mittels einer Kautionszahlung von der Untersuchungshaft freizukaufen. In ihrer prekären Situation leiden sie wie Strafgefangene unter menschenunwürdigen Haftbedingungen.
Dagegen protestierten Familienangehörige und Unterstützer der Inhaftierten am 12. Februar mit einem Autokorso von über 50 Fahrzeugen in der Innenstadt von Philadelphia. Der Protestzug war mit Unterstützung von Menschenrechtsgruppierungen wie dem Abolitionist Law Center, der Human Rights Coalition und anderen organisiert worden. Die mit Plakaten, Spruchbändern und gelben Bändern geschmückten Fahrzeuge zogen vom Stadtzentrum durch die von Armut, Rassismus und den Folgen der Coronapandemie betroffenen Stadtteile, aus denen die Gefangenen größtenteils stammen, um sich am Ende vor dem Rathaus der Stadt zur Schlusskundgebung einzufinden.
In ihrer aktuellen Onlineausgabe nahm die US-Wochenzeitung Workers World (WW) die Aktion zum Anlass, auf »die Krise in dieser Stadt« hinzuweisen. Viele Menschen seien »nach wie vor Gewalt ausgesetzt« und verfügten über »keine medizinische Versorgung, keine angemessene Hygiene oder Ernährung«. Als Beschuldigten werde ihnen nach ihrer Festnahme der Zugang zu einem Rechtsbeistand erschwert. Dann warteten sie unbestimmte Zeit auf ihre Gerichtstermine. Da allen Gefangenen wegen der Coronabeschränkungen der Aufenthalt außerhalb ihrer Einzelzellen verweigert werde, komme »das einer Isolationshaft gleich«, so der Aktivist Joe Piette in WW.
Durch den Autokorso erfuhr die Öffentlichkeit, wie sich der Alltag der Gefangenen in den überbelegten Knästen ständig verschärft. Sie bekämen nicht genug Zeit zum Duschen, sich medizinisch versorgen zu lassen oder mit ihren Familien zu telefonieren. Das alles stelle »einen Verstoß gegen den durch die US-Verfassung garantierten Schutz vor grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung dar«. Im Jahr 2021 seien unter diesen Bedingungen »mindestens 18 Häftlinge in Philadelphias Gefängnissen zu Tode gekommen«, so Piette.
Das Lokalblatt Philadelphia Inquirer hatte bereits am 1. Februar berichtet, dass es dem gemeinnützigen Pennsylvania Institutional Law Project (PILP) vor diesem Hintergrund zum zweiten Mal innerhalb von sieben Monaten gelungen war, die Stadt Philadelphia gerichtlich zur Zahlung von 125.000 US-Dollar an kommunale Kautionsbüros zu zwingen. Das PILP sieht es als seine Pflicht an, die »schockierende Zahl von mittellosen Menschen, die in Gefängnissen oder anderen Anstalten untergebracht sind«, dabei zu unterstützen, ihre verfassungsmäßigen Rechte gleichberechtigt zu nutzen. Der begünstigte Kautionssteller Philadelphia Bail Fund erklärte nach der erfolgreichen Klage des PILP gegenüber dem Inquirer, er werde dafür sorgen, mit diesem Geld »so viele Menschen wie möglich aus den beklagenswerten, lebensbedrohlichen Bedingungen« hinter Gittern zu befreien.
Den in Philadelphia demonstrierenden Unterstützern der Häftlinge sind Kautionsgelder indes zuwenig, sie wollen mehr. »Gefängnisse machen unsere Gemeinden nicht sicherer und schaden uns allen nur.« Es gebe »gute Gründe, die Gefängnisse abzuschaffen«. Bestätigung erhielten die Abolitionisten durch den beispielhaften Fall des Gefangenen Vincent Simmons, der vergangene Woche Schlagzeilen machte. Auf Anordnung eines Richters in Louisiana wurde der Afroamerikaner nach 44 Jahren Haft freigelassen, weil ihm »nie ein fairer Prozess« gemacht wurde. 1977 sei er wegen »versuchter Vergewaltigung« nur deshalb zu 100 Jahren Knast verurteilt worden, weil der Verteidigung entlastende Beweisstücke vorenthalten wurden, »die möglicherweise schon damals zum Freispruch geführt hätten«, so der Richter. Anlässlich seiner Freilassung sagte Simmons dem US-Sender CBS News, er werde jetzt »daran arbeiten, anderen Häftlingen zu ihrer Freiheit zu verhelfen«.
Jürgen Heiser