Mumia Abu-Jamal * Link zum Artikel in junge Welt Nr. 126 vom 2. Juni 2020: Bitte HIER klicken![1]
Auf dem Weg in den Abgrund
Die durch das Coronavirus ausgelöste Krise hat gezeigt, wie verwundbar die Vereinigten Staaten von Amerika und andere Nationen rund um den Globus sind. Und zwar durch etwas, das mit dem menschlichen Auge nicht wahrnehmbar ist. In kurzer Zeit zerbröselte das weltweit aggressivste Wirtschaftssystem wie ein Mürbekeks. Die anfänglich wenigen SARS-CoV-2-Infektionen breiteten sich in wenigen Wochen explosionsartig mit weit mehr als einer Million Infizierten über das Land aus, und in nur zwei Monaten waren von Kindern bis zu Senioren bereits über 87.000 Menschen an Covid-19 gestorben.
Es wäre eine maßlose Untertreibung zu sagen, die USA seien nur zu »schlecht ausgerüstet« gewesen, um dem Virus angemessen zu begegnen. Das profitorientierte Gesundheitssystem war völlig überfordert, das politische System wurde von dem Problem überrollt. Die meisten anderen Systembereiche schlossen einfach Fenster und Türen, ließen ihre Sicherheitsgitter herunter und gingen nach Hause, als wäre ein Hurrikan im Anmarsch. Aber fällt ein Sturm geräuschlos und unsichtbar über ein Land her? Nein, das schafft offensichtlich nur der Ansturm einer sich rasend schnell ausbreitenden Viruspandemie.
Bald stand die Frage im Raum, was passieren würde, wenn die Zahl der an Covid-19 gestorbenen US-Bürger die Marke von 100.000 überschreiten würde. Wie wir jetzt sehen konnten – nichts! Hunderttausend Menschen sind in kurzer Zeit in den Vereinigten Staaten gestorben, aber es scheint, als hätte das im Grunde keinerlei Bedeutung und diese ungeheure Zahl wäre einfach nur eine statistische Größe unter vielen. Entscheidend ist jetzt, ob mit der Marke »100.000« ein Ende erreicht ist oder ob sich der Strom der Toten weiter durch das Land wälzt wie der mächtige Mississippi River.
Jetzt, da der Sommer beginnt und es die Menschen nach der Rücknahme der Lockdown-Maßnahmen nach draußen drängt, um endlich wieder mit anderen zusammensein zu können, was wird in den kommenden Wochen passieren? Wird es eine zweite Infektionswelle geben oder nach und nach sogar mehrere? Jetzt, da über hunderttausend Frauen, Männer und Kinder gestorben sind, weil auf die Pandemie mit einem Grad an schierer Inkompetenz reagiert wurde, der, offen gesagt, schier unfassbar ist, marschiert die Nation kopfüber in den Abgrund.
Es ist wichtig, an dieser Stelle einmal ganz klar zu sagen, dass die jetzt von der Johns-Hopkins-Universität offiziell bekanntgegebene Zahl von über hunderttausend Toten nicht das wahre Ausmaß der Katastrophe wiedergibt. Denn die US-Behörden sind so geizig beim Testen auf das Coronavirus, dass die Mehrheit der Menschen nie getestet wurde. Vor allem nicht die, die zu Hause gestorben sind, weil sie sich eine Krankenhausbehandlung nicht leisten konnten. Unklar ist auch, wie viele Obdachlose an Covid-19 gestorben sind. Oder glaubt wirklich jemand, dass von den Hunderttausenden, die in den USA auf der Straße leben, irgendwer getestet wird?
In Zeiten wie diesen zeigt sich, dass nicht »alle Menschen gleich geschaffen sind«, wie es in der Präambel der US-Verfassung heißt. Vor allem für Schwarze ist dies eine Zeit, in der sie unbeschreibliche Verluste erleiden. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter, also Reinigungskräfte, Krankenschwestern und Pfleger, Besatzungen von Notfallambulanzen und all jene, die am Steuer von Bussen und Taxis sitzen sowie viele mehr, versahen weiter ihre wichtigen Jobs an vorderster Front der Ansteckung mit dem Coronavirus. Was erwartet sie, wenn die Vereinigten Staaten jetzt wieder alle Türen öffnen und die bisherigen Beschränkungen aufheben? Der proklamierte »Neubeginn« – oder der Tod?
Übersetzung: Jürgen Heiser