Freedom Now! Online Bulletin Nr. 14/1. Januar 2003
Die gekürzte Fassung dieses Artikels erschien am 16. Januar 2003 in der jungen Welt
»Ich begnadige alle, die in den Todeszellen sitzen.« Mit dieser öffentlich vorgetragenen Entscheidung löste Gouverneur Ryan, der bei seinem Amtsantritt noch Befürworter der Todesstrafe war, am vergangenen Samstag Beifallsstürme nicht nur in den USA aus. Er nannte die Todesstrafe in seiner Rede vor der Juristischen Fakultät der Northwestern University of Chicago »grausam, unkalkulierbar und deshalb unmoralisch. Ich werde nicht länger herumpfuschen an der Todesmaschinerie«, sagte er vor dem gut besuchten Auditorium.
Die Begnadigung von 167 Gefangenen, deren Strafe in der Regel in lebenslange Haft umgewandelt wurde, stellt den größten Angriff auf die Todesstrafenpraxis dar, deren fanatischster Befürworter und Vollstrecker der heutige Präsident der USA, George W. Bush, während seiner Amtszeit als Gouverneur von Texas war.
Ryans Entscheidung fiel drei Jahre nach Verkündung eines Moratoriums in Illinois, wodurch die Todesstrafe in diesem Bundesstaat nicht mehr verhängt und bereits verurteilte Gefangene nicht mehr hingerichtet werden durften. Berufungsgerichte hatten in Illinois in dreizehn Fällen festgestellt, daß Fehlurteile ergangen waren, und die Todesurteile aufgehoben. Bis dahin waren in diesem Bundesstaat seit 1977 zwölf Todesurteile vollstreckt worden. Von 1972-76 war die Todesstrafe in allen US-Bundesstaaten wegen des Vorwurfs, fast ausschließlich Minderheiten zu treffen, durch das Oberste Bundesgericht in Washington DC ausgesetzt worden, aber dann nach und nach in 38 Bundesstaaten wieder in Kraft gesetzt worden.
»Ich mußte handeln«, sagte Ryan, »denn unser System der Todesstrafe wurde vom Dämon des Irrtums verfolgt - dem Irrtum bei der Beantwortung der Schuldfrage und dem Irrtum, wer unter den Schuldigen es verdient hat zu sterben und wer nicht. Ich kann nicht zulassen, daß Unschuldige umgebracht werden für etwas, was sie nicht getan haben. Ich traf diese Entscheidung ungefähr sechzig Stunden vor dem Ende meiner Amtszeit; ein Insasse unserer Todeszellen hatte einmal nur noch 48 Stunden zu leben, bevor herauskam, daß er unschuldig war.«
Nachdem eine Hochschulgruppe des Fachbereichs Journalistik der Universität von Chicago mehrere Fälle von zum Tode Verurteilten aufgerollt und deren Unschuld festgestellt hatte, war das Moratorium verhängt und eine Untersuchungskommission eingesetzt worden, die sich mit den Vorwürfen gegen die Todesstrafenpraxis befassen und einen Bericht vorliegen sollte. Ryan sagte nun, die Studien der Kommission hätten mehr und mehr Fragen aufgeworfen über die Praxis der Urteilsfindung, der Prozeßführung, der Strafzumessung, der Berufungsverfahren. Er nannte es ein »spektakuläres Versäumnis«, daß auf Regierungsebene nichts dafür getan wurde, das Todesstrafensystem zu reformieren.
Nach Ryans bahnbrechender Entscheidung bröckelt nun im ganzen Land die Front der Befürworter der Todesstrafe, vor allem weil der Untersuchungsbericht von Illinois und zahlreiche weitere Studien und Statistiken der Praxis der Todesstrafe eine klare rassistische Tendenz nachweisen.
»Wie kann man ein System aufrechterhalten, in dem bis zu 50 Prozent der Urteile später wieder aufgehoben werden müssen?« fragte Ryan öffentlich. »Wie hätte ich anders handeln können als der verantwortliche höchste Politiker unseres Bundesstaates Illinois? Wie kann ich es verantworten, jemanden hinrichten zu lassen, der vielleicht unschuldig ist, und ihn in die Todeskammer schicken? Jemand mußte dieses Spektakel beenden.«
Wenn auch die Strafen der Mehrheit det Begnadigten in lebenslange Haft umgewandelt wurden, so mußten drei von ihnen sofort freigelassen werden, unter ihnen Madison Hobley. Vor 16 Jahren starben bei einem Hausbrand in Chicago vier Menschen. Die Polizei nahm den Afroamerikaner Hobley damals als Tatverdächtigen fest und folterte ihn mit Elektroschocks. »Ich habe es nicht getan, Sie haben die falsche Person verhaftet«, hatte er von Anfang an beteuert. Nun ließ Ryan ihn frei, denn er hatte nur unter der Polizeifolter ein Geständnis abgelegt. Angesichts solcher Vorgänge verlieh Ryan seiner Hoffnung ausdruck, daß die Bürgerinnen und Bürger der USA Hinrichtungen bald nur noch aus Museen kennen würden.
Aber noch befinden sich über 3.500 Menschen in den US-Todestrakten, und in anderen Teilen der USA ist nach wie vor von Gnade keine Spur. In keinem anderen Bundesstaat werden so viele Menschen hingerichtet wie in Texas. George W. Bush hat während seiner Amtszeit als Gouverneur nicht einmal die reuige und zur Wiedergeborenen Christin bekehrte Karla Faye Tucker begnadigt und keine Gelegenheit ausgelassen, zur Verschärfung und vermehrten Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe beizutragen. Nach Art der mittelalterlichen Inquisitoren hatte Bush Begnadigungen öffentlich mit der Begründung abgelehnt, die Gnade liege allein in Gottes Händen und er wolle sich da als Politiker nicht einmischen.
In Maryland, dem einzigen anderen Bundesstaat, der auch ein Moratorium verhängt hatte, folgte der scheidende Gouverneur Parris Glendening nicht Ryans Beispiel. Sein Sprecher sagte, Glendening beabsichtige keine Begnadigungen.
Für die in den letzten Jahren gewachsene Bewegung der Todesstrafengegner bedeutet die Entscheidung von Ryan einen der größten moralischen Siege der letzten Jahrzehnte. Als Ryan seine erwartete Rede an der juristischen Fakultät der Northwestern University von Chicago hielt, waren zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten der Kampagne für die Abschaffung der Todesstrafe im Saal. »Gouverneur Ryan hat uns gezeigt, was es wirklich heißt, Regierungsverantwortung zu tragen. Seine Entscheidung hat Größe«, sagte Lawrence C. Marshall, Direktor des Centers on Wrongful Convictions (Zentrum für die Erforschung fehlerhafter Urteile) der Hochschule, der die Studierendengruppe des Fachbereichs Journalistik angehört, die schon für die Freilassung einiger unschuldig im Todestrakt Einsitzender gesorgt hatte.
Aus Kreisen der Strafverfolgungsbehörden und selbst vom neugewählten Gouverneur, dem Demokraten Rod Blagojevich, war heftige Kritik an Ryans letzter Amtshandlung zu hören. Die pauschale Begnadigung nannte er »einen großen Fehler«. Jeder Fall müsse individuell überprüft werden, schließlich ginge es um Mord. Daß er damit eigentlich in die Kerbe seines Amtsvorgänger schlug, dem es genau darum ging, nämlich staatlichen Mord zu verhindern, war ihm dabei sicherlich nicht bewußt.
Ryans Gegner, auch aus seiner eigenen Republikanischen Partei, hatten es zumindest geschafft, seine Wiederwahl zu verhindern, indem sie eine Untersuchung wegen Korruptionsvorwürfen gegen ihn anstrengten, die noch aus seiner früheren Amtszeit als Staatssekretär stammten und erneut aus dem Giftschrank geholt wurden. So war Ryan sogar zum Aussätzigen der eigenen Partei gemacht worden, weil er sich seit der Verkündung des Moratoriums nicht hatte beirren lassen und weiter an seiner gründlichen Infragestellung der Todesstrafe festhielt. Die Vereinigung der Staatsanwälte von Illinois ließ durch ihren Sprecher John Piland verlautbaren, man suche nach Wegen, Ryans Entscheidung anzufechten. Doch hielten andere Staatsanwälte dem entgegen, das Begnadigungsrecht des Gouverneurs sei ein hoheitlicher Akt und nicht juristisch anzugreifen. Dazu bedürfe es schon einer Verfassungsänderung des Bundesstaates und die sei nicht in Sicht.
Auch Familienangehörige von Mordopfern äußerten vor Kameras und Mikrophonen Unverständnis über Ryans Schritt. Ryan hatte allen betroffenen Familien kurz vor öffentlicher Bekanntgabe der Begnadigung in einem per Kurier zugestellten persönlichen Brief den Schritt angekündigt, weil er nicht wollte, daß sie erst aus den Medien davon erführen. Er fühle mit den Männern, Frauen und Kindern von Mordopfern, aber er habe handeln müssen. »Ich bin nicht bereit, das Risiko zu tragen, daß wir vielleicht Unschuldige hinrichten«, teilte er den Angehörigen mit.
Am Ende seiner Rede sah Ryan einigen der ehemaligen Todeskandidaten, die bereits wegen erwiesener Unschuld aus der Todeszelle entlassen worden waren und nun vor ihm in der ersten Reihe saßen, in die Augen, als er den zukunftsweisenden Satz seiner Rede aussprach: »Die Todesstrafe steht im Zentrum der großen Bürgerrechtskämpfe unserer Zeit.«
Jürgen Heiser