Mumia Abu-Jamal * Link zum Artikel in junge Welt Nr. 280 vom 2. Dezember 2019: Bitte HIER klicken![1]
Die Botschaft von Leonard Peltier:
Wandeln auf geraubtem Land
Das Jahr 2019 neigt sich dem Ende zu und mit ihm kommt der Tag, den die meisten US-Amerikaner als Tag des Erntedankfests begehen. Während meine Gedanken über die Stahlgitter und Betonwände schweifen, versuche ich mir vorzustellen, was die Menschen außerhalb der Gefängnismauern tun, und was sie denken. Denken sie jemals an die indigenen Ureinwohner, die aus ihren Heimatgebieten vertrieben wurden? Begreifen sie, dass sie mit jedem Schritt, den sie gehen, ungeachtet der Richtung, auf geraubtem Land wandeln? Können sie sich nur eine Minute lang die Leiden der Frauen, der Kinder und Babys und, ja, der Kranken und Alten vorstellen, als sie bei eisigen Temperaturen mit wenig oder gar keinem Essen weiter nach Westen verdrängt wurden? Das war mein Volk, und es war unser Land. Es gab eine Zeit, in der wir uns unserer Freiheit erfreuten und Büffel jagen und Lebensmittel und Kräuter, unsere heiligen Arzneien, sammeln konnten. Wir konnten angeln gehen und genossen das saubere, klare Wasser! Mein Volk war großzügig, wir teilten alles, was wir hatten, einschließlich des Wissens, wie man die langen harten Winter oder die heißen feuchten Sommer überlebt. Wir nahmen dankbar die Gaben unseres Schöpfers entgegen und zeigten täglich unseren Dank. Unsere Zeremonien und besonderen Tänze waren ein Fest des Lebens.
Als die Fremden an unsere Küsten gelangten, änderte sich das Leben, wie wir es kannten, auf dramatische Weise. Persönliches Eigentum war meinem Volk fremd. Zäune? Damals völlig unbekannt. Wir waren ein Gemeinschaftsvolk und sorgten füreinander. Unsere Großeltern lebten nicht isoliert von uns! Sie waren die Bewahrer unserer Lebensweisheiten und Geschichtenerzähler und wichtige Bindeglieder unserer Familien. Die Kinder? Sie waren und sind unsere Zukunft! Schaut euch die wunderbaren jungen Menschen an, die sich in Gefahr begeben und dafür kämpfen, dass unser Wasser und unsere Umwelt für die kommenden Generationen sauber und sicher bleiben. Sie sind bereit, den riesigen multinationalen Konzernen entgegenzutreten, indem sie die breite Öffentlichkeit über die verursachten Verwüstungen aufklären. Mein Lächeln ist voller Hoffnung, wenn ich an sie denke. Sie sind furchtlos und bereit, allen, die willens sind zuzuhören, die Wahrheit zu sagen. Wir denken auch an unsere Brüder und Schwestern in Bolivien, die sich für Evo Morales, ihren ersten indigenen Präsidenten, einsetzen. Sein Engagement für die Menschen, das Land, ihre Ressourcen und den Schutz vor Korruption ist lobenswert. Wir würdigen diesen Kampf und können uns sehr gut damit identifizieren.
Deshalb danke ich heute allen Menschen, die bereit sind, offen zu sein, die bereit sind, die Verantwortung für die Planung der kommenden sieben Generationen zu übernehmen, und die sich an die Opfer erinnern, die unsere Vorfahren gebracht haben, damit wir weiterhin unsere eigene Sprache sprechen können, auf unsere ureigene Art Dankbarkeit zeigen und uns immer respektvoll zur indigenen Linie bekennen, deren Träger wir sind.
Diejenigen unter euch, die dankbar dafür sind, dass sie genug zu essen haben, um ihre Familien zu ernähren, bitte ich, auch denen zu geben, die dieses Glück nicht haben. Wem es vergönnt ist, Wärme in einem behaglichen Zuhause zu finden, der lasse bitte auch diejenigen daran teilhaben, die obdachlos sind und frieren. Wer einen Menschen sieht, der leidet und ein paar freundliche Worte braucht, der gehe zu ihm und reiche ihm die Hand. Vor allem aber bitte ich alle, die vielerorts auf Ungerechtigkeiten stoßen, diesen mutig entgegenzutreten.
Ich danke allen, die so freundlich sind, mich und meine Familie in ihre Gedanken und Gebete einzubeziehen und die mich weiterhin unterstützen und an mich glauben. Es vergeht kein Tag und keine Minute ohne die Hoffnung, dass dies der Tag ist, an dem mir endlich die Freiheit gewährt wird. Ich sehne mich nach dem Tag, an dem ich wieder saubere, frische Luft atmen und eine sanfte Brise in meinem Haar spüren kann, an dem ich beobachten kann, wie die Wolken dahinziehen und die Sonne verdecken und wie das Mondlicht auf den Weg zur heiligen Inipi (Schwitzhütte) fällt. Das wäre wahrlich ein Tag, den ich als »Thanksgiving Day« bezeichnen könnte. Wer auch immer Euch meine Worte überbringt, habt Dank für Eure Aufmerksamkeit. Im Geiste bin ich bei Euch.
Doksha – In the Spirit of Crazy Horse, Leonard Peltier
Übersetzung: Jürgen Heiser
»Thanksgiving« wird in den USA jährlich am letzten Donnerstag im November als Feiertag begangen. Leonard Peltier entstammt den Nationen der Anishinabe, Dakota und Lakota und wuchs auf den Reservationen der Turtle Mountain Chippewa und Fort Totten Sioux in North Dakota auf. Als Aktivist des American Indian Movement sitzt Peltier seit 1977 in Haft, weil er für eine Schießerei, bei der zwei FBI-Agenten und ein junger indigener Aktivist starben, verantwortlich gemacht wurde, obwohl er nachweislich nicht vor Ort war. (jh)