Mumia Abu-Jamal * Link zum Artikel in junge Welt Nr. 19 vom 23. Januar 2017: Bitte HIER klicken![1]
Falsches Klassenbewusstsein
Präsidentschaftswahlen in den USA laufen in der Regel immer gleich ab: Im Mittelpunkt stehen die Kandidaten, ihre Ansichten, ihre Standpunkte und, was möglicherweise noch wichtiger ist, ihre Persönlichkeit.
Natürlich kennt diese Kandidaten niemand wirklich, aber dank moderner Medienkommunikation glauben wir, es doch zu tun. Tatsächlich aber sind diese Politiker für uns bestenfalls vertraute Unbekannte, weil wir sie täglich in der Wahlwerbung der Parteien sehen oder in Interviews, die von den Fernsehanstalten ausgestrahlt und ins Internet gestellt werden.
Indes sollte in einer politischen Demokratie das Volk als handelndes Subjekt im Mittelpunkt des Interesses stehen. Denn was wären Wahlen ohne Wähler? Von den Medien aber wird die Mehrheit der Durchschnittsbürger ignoriert, weil die Kandidaten der Minderheit der reichen Elite den Hof machen, als gelte es, die Zuneigung einer Geliebten zu gewinnen.
Daran wird die wahre Natur der Politik in diesem Land deutlich. Denn die Reichen und Mächtigen betreiben Politik wie eine geschäftliche Transaktion, oder, um es einfacher auszudrücken, sie gehen mit ihrem Votum für die zur Wahl stehenden Kandidaten so um, dass sie damit auch ein gutes Geschäft machen wollen. Sie sagen also zu dem für sie in Frage kommenden Kandidaten: Wenn du meine Stimme haben willst, dann will ich von dir im Gegenzug die Leistung X dafür.
Viele Wählerinnen und Wähler aus den ärmeren Bevölkerungsschichten oder aus der Arbeiterklasse treffen ihre politische Entscheidung im Gegensatz dazu aus einem momentanen Gefühl heraus. Sie machen ihr Kreuz bei dem Kandidaten, der ihnen ein gutes Gefühl vermittelt. Der Grund ist, dass sie sich wegen ihrer Armut, ihrer sozialen Stellung selbst als machtlos sehen und von daher nicht würdig, Forderungen zu stellen. Sie wünschen sich in ihrer Not Hilfe, aber keine gesellschaftliche Macht.
Dieses falsche Klassenbewusstsein prägt das politische System der USA. Die Armen und vermeintlich Machtlosen sind immer wieder enttäuscht von den Politikern, für die sie gestimmt haben. Das liegt eben daran, dass sie für die Kandidaten votieren, die sie mögen, und nicht, weil diese ihnen konkret etwas als Gegenleistung für ihre Stimme versprochen haben. Enttäuschen die gewählten Politiker das »gute Gefühl«, folgt daraus, dass sich viele Wähler von der Politik verraten fühlen und Politikern nicht mehr vertrauen. »Die da oben« lügen ja doch nur, und dann sitzen sie in ihrem Amt und machen eh, was sie wollen, nicht wahr?
Der Grund für die Enttäuschung und sogenannte Politikverdrossenheit ist also, dass die meisten Leute keine klaren politischen Forderungen stellen. Warum sind sie dann überrascht, wenn sie auch nichts bekommen?
Von Gefühlen bestimmte Politik ist was für Kinder, die im Sandkasten »kleiner König« spielen. Als Transaktion begriffene Politik jedoch stellt klare Forderungen, die dann, wenn sie nicht erfüllt werden, auch zu entsprechenden politischen Konsequenzen führen müssen.
Übersetzung: Jürgen Heiser