Kolumne # 793 vom 29.02.2016: Juristische Raserei

29.02.16 (von maj) Die Gerichte in Pennsylvania sind wild entschlossen, eine Konterrevolution anzuzetteln, mit der sie die politischen Ansichten von Politikern umsetzen, die einen langandauernden Krieg gegen die schwarze und hispanische Jugend führen

Mumia Abu-Jamal * Link zum Artikel in junge Welt Nr. 50 vom 29. Februar 2016: Bitte HIER klicken![1]

Juristische Raserei
Der Oberste Gerichtshof der USA hat Ende Januar eine Grundsatzentscheidung gefällt, die besagt, dass lebenslange Haft für minderjährige Gefangene ohne Aussicht auf eine Strafaussetzung zur Bewährung verfassungswidrig ist. Mit dem Spruch im Fall »Montgomery gegen Louisiana« hat das Gericht ein eigenes Urteil aus dem Jahr 2012 wieder aufgehoben. Im Gegensatz zum damaligen Fall »Miller gegen Alabama« ist im jüngsten Beschluss ausdrücklich festgelegt, dass dieser rückwirkend auf alle zuvor in den USA ergangenen Straf­urteile angewendet werden soll, sofern die Täter beim Begehen ihrer Delikte jünger als 18 Jahre waren.
Zumindest die vier US-Bundesstaaten Michigan, Minnesota, Florida und Pennsylvania hatten beschlossen, dass die »Miller«-Entscheidung keine rückwirkende Rechtskraft haben sollte, wovon vor allem in Pennsylvania sehr viele Gefangene betroffen waren. Dort sind mehr Menschen inhaftiert, die zur Tatzeit jünger als 18 Jahre waren, als in jedem anderen Bundesstaat der USA, ja sogar mehr als unter jeder anderen Gerichtsbarkeit der Welt. Mehr als in China. Mehr als in Russland. Mehr als in Saudi-Arabien.
Und warum ist das so? Sind die Kids in Pennsylvania schlechter oder krimineller als ihre Altersgenossen anderswo auf diesem Planeten? Das denke ich nicht, aber möglicherweise sind es die politischen Köpfe in diesem Bundesstaat. Dasselbe könnte man über die Richter dort sagen – und die Richter des Obersten Gerichtshofs von Pennsylvania, möchte ich hinzufügen –, die offensichtlich mehr damit zu tun hatten, sich und den Staatsanwälten des Justizministeriums von Pennsylvania gegenseitig Dreck zuzuschieben, als dass sie noch Zeit gehabt hätten, sich um bei der Tat Minderjährige zu kümmern, die zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden waren. (Anspielung auf den 2008 aufgedeckten Skandal »Kids gegen Bares« in Pennsylvania, wo Richter Geldzahlungen von Betreibern privater Gefängnisse dafür erhalten hatten, dass sie ihnen möglichst viele jugendliche Straftäter als Häftlinge zuwiesen, jW berichtete.)
Im Oktober 2013 entschied der Oberste Gerichtshof Pennsylvanias mit vier zu drei Stimmen im Verfahren »Commonwealth gegen Cunningham«, dass die »Miller«-Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs in Washington D. C. nicht auf die als Jugendliche verurteilten 500 männlichen Häftlinge mit lebenslänglichen Urteilen anzuwenden sei. In der schriftlichen Begründung der »Cunningham«-Entscheidung wurde auch die abweichende Minderheitsposition zitiert, die besagte, dass »die Festlegung der angemessenen Strafe für einen des Mordes überführten Teenager eine schwerwiegende und herausfordernde Frage von Moral und Sozialpolitik darstellt«. Das »Cunningham«-Gericht ignorierte jedoch gleichzeitig die zentrale Aussage der »Miller«-Entscheidung, dass »Kinder anders zu beurteilen sind«. Rechtsanwalt Marc Bookman, Leiter des »Atlantic Centers« in Philadelphia mit dem Schwerpunkt der Verteidigung in Verfahren wegen Kapitalverbrechen, nannte deshalb alle auf »Miller« basierenden Entscheidungen in den Fällen von »Roper«, »Graham« und »Montgomery« eine »Jugendrevolution« der Rechtsprechung, was auch zutreffend ist.
Die Gerichte in Pennsylvania jedoch scheinen wild entschlossen zu sein, dagegen eine Konterrevolution anzuzetteln, mit der sie die politischen Ansichten von Politikern umsetzen, die diesen langandauernden Krieg gegen die Jugend vorangetrieben haben. Dazu zählen der aus der Clinton-Clique stammende frühere Bezirksstaatsanwalt und spätere Gouverneur von Pennsylvania, Edward Rendell, der ehemalige republikanische Gouverneur Pennsylvanias und spätere US-Heimatschutzminister Tom Ridge und die vielen anderen Politiker, die mehr Gefängnisse als Schulen gebaut haben und maßgeblich für das in die Sackgasse führende Phänomen der Masseninhaftierungen verantwortlich sind.
In der Clinton-Ära in den 1990er Jahren entwickelten konservative Wissenschaftler eine völlig abwegige Theorie über diese Jugendlichen, und manch Prominenter unten ihnen warnte vor dem unheilvollen Auftauchen sogenannter »Superraubtiere« – vor schwarzen und braunen Kids, die, aufgeputscht durch Crack und ungebärdig gegenüber der Gesellschaft, diese attackieren und zerstören werden. So jedenfalls hieß es damals. Aber diese Alpträume wurden niemals Wirklichkeit, weil sie sich auf nichts anderem gründeten als künstlich geschürten Ängsten und rassistischen Phantasien. Heute sucht man diese »Superraubtiere« vergeblich. Es sei denn, dass damit Politiker, Richter und Wissenschaftler gemeint sind, die sich auf Beutefang unter Jugendlichen machen.

Übersetzung: Jürgen Heiser


Links im Artikel: 1
[1] https://www.jungewelt.de/2016/02-29/028.php?sstr=juristische|raserei

Ausdruck von: http://freedom-now.de/news/artikel1373.html
Stand: 23.11.2024 um 14:16:16 Uhr