Mumia Abu-Jamal * Link zum Artikel in junge Welt Nr. 289 vom 14. Dezember 2015: Bitte HIER klicken![1]
Unsichtbare Weiße
Manchmal gibt es Ereignisse, die, obwohl sie an unterschiedlichen Orten geschehen, gemeinsame Merkmale aufweisen. Und es gibt Ereignisse, die erst, wenn man sie miteinander vergleicht, ihre Unterschiedlichkeit klar offenbaren. Es geht um die folgenden beiden Fälle: Erstens um einen jungen Mann in Chicago, auf den wegen des »Schwerverbrechens«, im Besitz eines kleinen Taschenmessers zu sein, solange geschossen wird, bis er tot ist. Sein Vergehen: Er hatte einen Polizisten derart in Angst versetzt, dass dieser 16 tödliche Schüsse auf ihn abfeuern musste.
Zweitens geht es um einen schon etwas älteren Mann, der sich bis an die Zähne bewaffnet hat, so als zöge er in den Krieg. Er fährt mit seinem Auto zu einer Abtreibungsklinik in Colorado Springs und läuft dort eine Stunde lang Amok. Dabei schießt er auf neun Menschen und tötet drei von ihnen. Als sein Koller endlich vorbei ist, ergibt er sich der Polizei. Bei seiner Verhaftung wird er weder verprügelt noch getreten. Schon gar nicht wird auf ihn geschossen.
Ich beziehe mich mit meinen Schilderungen natürlich auf die Fälle von Laquan McDonald, 17 Jahre alt, der im Oktober 2014 in Chicago im US-Bundesstaat Illinois starb, und von Robert Lewis Dear, 57 Jahre alt, aus Colorado Springs, der dort im November 2015 eine Klinik für Familienplanung überfiel.
Die unterschiedliche Behandlung der beiden ist nur zu verstehen, wenn man weiß, dass Schwarze, was immer sie auch konkret gemacht haben mögen, sofort übermäßige Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sobald sie sich in der Nähe von Polizisten befinden. Dieses Muster hat eine solche Wirkung, dass auf der anderen Seite Weiße wie unter dem Schutz eines Naturgesetzes kaum wahrgenommen werden, sich wie unsichtbar durch den Alltag bewegen und von niemandem aufgehalten werden, selbst wenn sie ein ganzes Waffenarsenal mit sich führen. Deshalb war es dem Amokläufer Dear möglich, sich völlig unbehelligt in die Klinik zu begeben, obwohl er mehrere Waffen bei sich hatte. Ein Mann war also trotz seiner bedrohlichen Waffen praktisch unsichtbar, ein anderer zog sofort die ganze Aufmerksamkeit auf sich, obwohl er niemanden bedrohte und nur ein völlig legales Taschenmesser mit kurzer Klinge in seiner Hand hielt. Wie sich an den unterschiedlichen Reaktionen gezeigt hat, führten in beiden Fällen die Muster ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung in die Katastrophe.Übersetzung: Jürgen Heiser