Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 237 – 13. Oktober 2014 / Link zum Artikel in junge Welt - Bitte HIER klicken![1]
Liebe zum Lernen
Von John Dewey, dem Gründer des Goddard College, stammt das Motto: »Bildung bereitet nicht auf das Leben vor. Sie ist das Leben.« Nie zuvor waren diese Worte so wahr wie heute. Unsere Nation steckt tief in Problemen – vor allem hat uns altes Denken sowohl im Innern als auch global in den Sumpf geführt, in dem wir jetzt stecken. Namen wie Gaza, Ferguson und Irak stehen dafür. (…) Die Welt des 21. Jahrhunderts nötigt uns neue Fragestellungen ab, aber noch dringender brauchen wir neue Antworten. Wir leben in einer Welt, in der schon Gerüchte und Anspielungen Kriege auslösen können. Eine Welt, in der materielle Interessen von Unternehmen über die Interessen der arbeitenden Menschen gestellt werden. Eine Welt, in der die ökologischen Gefahren für frisches Trinkwasser, saubere Luft und die Umwelt in US-Städten uns vor Herausforderungen stellen, die jede Vorstellungskraft übersteigen. Habe ich übrigens schon erwähnt, dass wir auch ein neues Denken brauchen? Der momentane globale Kurs in sozialen, politischen und ökologischen Fragen ist, gelinde gesagt, einfach unhaltbar. (…)
Als ich in den 1970er Jahren ans Goddard-College kam, war ich eingeschüchtert. Obwohl mir Dozenten und ältere Semester sagten, dass ich den Stoff schaffen würde, fiel es mir schwer, ihnen zu glauben. Ich fühlte mich verdammt schlecht vorbereitet. Aber Goddard weckte mein Selbstvertrauen, und dieses Gefühl habe ich nie wieder verloren. Als ich dann viele Jahre später wieder Kontakt mit Goddard aufnahm, war ich Gefangener im Todestrakt, und das Damoklesschwert der Hinrichtung hing über mir. Ich konnte mein ursprüngliches Studium als Fernstudium fortsetzen und befasste mich in meiner Abschlussarbeit mit den Schriften von Frantz Fanon und Ignacio Martín-Barό, um ihre Konzepte der Befreiungspsychologie und der Befreiungstheologie zu untersuchen. (…)
Das Goddard College erweckte in mir aufs neue meine Liebe zum Lernen. In Gedanken verließ ich den Todestrakt und reiste nach Frankreich, wo Fanon sein Psychiatriestudium absolviert hatte. Und von dort zog ich weiter zum Hospital in Blida, nördlich von Algiers, wo er als Arzt praktiziert hatte und sich später der algerischen Revolution anschloss. Während ich die Schriften von Martín-Barό studierte, reiste ich nach El Salvador, wo er als Priester und Psychologe tätig gewesen war und Kleinbauern Lesen und Schreiben beigebracht hatte, während das Land unter dem von »El Norte«, dem US-Imperium, gestützten Terror des Militärs stöhnte. Wer die beiden waren? Fanon wurde auf der Karibikinsel Martinique geboren, damals noch eine französische Kolonie. Und als er sah, welche Unterdrückung die arabischen Einwohner Algeriens erleiden mussten, fühlte er den Drang, sich der Revolution auf seiten derer anzuschließen, die er die »Verdammten dieser Erde« nannte.
Ignacio Martín-Barό war einer von sechs Jesuitenpatern, die zusammen mit einer Haushälterin und ihrer Tochter von einer berüchtigten salvadorianischen Todesschwadron, die dem von den USA trainierten »Batallón Atlácatl« angehörte, ermordet wurden.
Goddard unterstützte meine »Auslandsreisen«, auch wenn ich sie nur in Gedanken vornehmen konnte, und ich bin der Schule und vielen meinen Freunden und anderen Absolventen dort außerordentlich dankbar dafür, dass sie mir Türen öffneten, die seit Jahrzehnten verschlossen waren. Goddard erlaubte mir, das zu erforschen, was mich wirklich interessierte und antrieb – revolutionäre Bewegungen –, und auf diesem Wege die Geschichte, Psychologie, Politik und natürlich die Ökonomie zu studieren. Inmitten einer der repressivsten Umgebungen der Welt, dem Todestrakt, erlaubte mir das Goddard-College, die Befreiung des Menschen und antikoloniale Kämpfe auf den beiden Kontinenten Afrika und Mittelamerika zu studieren. (…) Wenn das Studium in Goddard euch nur halb so viel bringt, was es mir gebracht hat, dann kann ich euch versichern, dass euch damit sehr gut gedient ist. Nun nutzt euer Wissen und wendet es in der Realität an. Seid selbst der Wandel, den ihr erreichen wollt.
Übersetzung: Jürgen Heiser
(Siehe jW vom 11.10.; Originalfassung auf Prison Radio: Bitte HIER klicken![2])