Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 119 – 24./25. Mai 2014
Es ist jetzt 60 Jahre her, daß der Oberste Gerichtshof der USA im jahrelangen Rechtsstreit »Brown vs. Board of Education« am 17. Mai 1954 abschließend ein Grundsatzurteil fällte, mit dem die Richter am höchsten US-Gericht einstimmig die vorher fast 100 Jahre geltende Rechtsprechung ber die getrennte Erziehung von schwarzen und weißen Kindern an staatlichen Schulen in den Vereinigten Staaten für rechtswidrig erklärten. 60 Jahre! Das ist so lang wie mein ganzes Leben. Doch bis heute funktionieren die Schulen immer noch nach dem alten rassistischen Schema, nur mit dem Unterschied, daß die Ungleichheit nun nicht mehr auf dem Gesetz, sondern auf Routine, Gewohnheit und vor allem Klassenzugehörigkeit basiert, was in den USA kaum einen Unterschied macht.
Mit Blick auf die Gerichtsentscheidung erklärte der Juraprofessor Derrick Bell (1930-2011) einmal sinngemäß in einem Interview, wir lebten trotzdem nach wie vor unter den Bedingungen der sogenannten Rassentrennung, seit der von »Brown« bewirkten Gesetzesänderung hätten wir dagegen jedoch keine rechtliche Handhabe mehr. Die Bemerkung von Professor Bell stammt aus dem Jahr 2003, und sie ist heute noch genau so wahr wie zu jener Zeit.
Als die »Brown«-Entscheidung Gesetz wurde, schwang sich Sam Irvin, Senator aus North Carolina, zum Sprecher einer Kampagne auf, die sich »Southern Manifesto« nannte, und schwor kompromißlose Opposition gegen die Aufhebung der Segregation. Dabei wurde Irvin von einer überwältigenden Mehrheit seiner weißen Wähler unterstützt.
Diese rechtliche Blockade gegen eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs wurde seitdem bis zum heutigen Tag aufrechterhalten. Das war immer noch die alte Rassentrennung, nur mit anderen Mitteln. Das Bildungssystem trennte faktisch weiterhin nach ethnischer Zugehörigkeit, indem es an einer Ungleichheit festhielt, die darauf basiert, daß bessere Schulbildung nur denen zuteil wird, die sie sich finanziell leisten können. Genau dieser Geist steckt auch im System der »Charter Schools«, jenen immer häufiger errichteten privatwirtschaftlichen Vertragsschulen, die aus öffentlichen Geldern finanziert werden. In diesen Schulen mögen einige wenige Schülerinnen und Schüler eine angemessene Bildung erhalten, die meisten aber nicht. Das ist traurig, aber wahr.
Jonathan Kozol, Pädagoge, Buchautor und Aktivist gegen die Bildungsmisere, der mit Sicherheit mehr Klassenzimmer in diesem Land von innen gesehen als jeder andere lebende Zeitgenosse, bezeichnet die Schulen der USA als »Apartheidschulen«, ein Begriff, der ursprünglich aus Südafrika stammt. Die Bildungsinstitutionen der USA nannte Kozol eine »Schande der Nation«, was später zum Titel eines seiner Bücher über das öffentliche Schulsystem wurde: »The Shame of the Nation. The Restoration of Apartheid Schooling in America«.
60 Jahre sind seit der Gerichtsentscheidung »Brown vs. Board of Education« vergangen, und ihr erging es nicht anders als der US-Verfassung 100 Jahre lang nach offizieller Abschaffung der Sklaverei am Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs; auch sie wurde so behandelt, als wenn sie nie existiert hätte.
Übersetzung: Jürgen Heiser