Kolumne # 674 vom 23.11.2013: Stell dir vor, es ist Wahl …

23.11.13 (von maj) … und keiner geht hin: In Philadelphia beteiligten sich nur noch elf Prozent

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 272 – 23./24. November 2013

Was wäre, wenn zu einer Wahl aufgerufen würde, und niemand ginge hin? Genau das ist jetzt in Philadelphia geschehen, als das Amt des Bezirksstaatsanwalts, des Rechnungshofpräsidenten, ein halbes Dutzend Richterämter und zwei freigewordene Sitze im Senat des Obersten Gerichtshofs von Pennsylvania neu zu besetzen waren. Von allen registrierten Wahlberechtigten der Stadt nahmen nur elf Prozent an diesem Wahlgang teil. Elf Prozent! Was für eine Art von Demokratie ist das, in der 89 Prozent der berechtigten Bürger einer Wahl fernbleiben?
In jedem Fall kann das als sehr deutlicher Hinweis darauf gewertet werden, daß die Mehrheit der Leute nicht den Eindruck hatte, daß es für sie überhaupt etwas zu wählen gab. Und wer wollte ihnen daraus einen Vorwurf machen? Wie oft gibt man seine Stimme einem Kandidaten oder einer Partei und muß hinterher feststellen, daß die Wahlversprechen nicht eingehalten, man also betrogen wird, sobald die Gewählten ihr Amt übernehmen? Wer zur Wahl geht, tut das letztendlich in der Hoffnung, dadurch etwas zum Besseren zu wenden. Was aber, wenn einem diese Hoffnung wieder und wieder zerschlagen wird?
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Freude, das Erstaunen der Wähler und den strahlenden Glanz, der von der Wahl Barack Hussein Obamas zum US-Präsidenten ausging. Was ist davon geblieben? Jeden Morgen beginnen schwarze US-Amerikaner in diesem Land einen neuen Tag in ihrem Leben, der genauso erbärmlich sein wird wie ihr beklagenswertes Gestern. Egal was sie machen, ob sie laufen, fahren, schwimmen, einkaufen oder einfach nur atmen – bei allem stehen sie unter dem Generalverdacht, etwas Illegales zu tun. Und schwarze Politiker, gefangen in ihrem verhängnisvollen Traum von einer postrassistischen Gesellschaft, verschließen beide Augen vor den ungeschriebenen Jim-Crow-Rassegesetzen, unter denen Menschen aus armen Bevölkerungskreisen und der Arbeiterklasse in- und außerhalb der Gefängnisse leiden. Diese Politiker plappern nur die Lügen der Weißen nach, schwärmen von den »Gründungsvätern der Vereinigten Staaten«, von der »Demokratie« und dem »American Exceptionalism«, der vermeintlichen Sonderstellung der USA in der Welt, um mit ihrem Propagandageschwätz das Leiden der schwarzen Bevölkerung zu verdecken. Sie stimmen der imperialen Gewalt, den Bombardements und den geheimen Foltergefängnissen im Ausland zu und schweigen zur wachsenden Barbarei in den Gefängnissen im eigenen Land. Und dann wundern sie sich, daß niemand zur Wahl geht.

Übersetzung: Jürgen Heiser


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Stand: 23.11.2024 um 14:31:25 Uhr