Kolumne # 670 vom 26.10.2013: Unter Kolonialrecht

26.10.13 (von maj) Puerto Rico ist als Teil des US-Imperiums immer noch nicht frei / Mumia Abu-Jamals Beitrag für die 76. Jahrestagung der progressiven US-Anwaltsvereinigung National Lawyers Guild vom 23.-27. Oktober 2013 in San Juan, Puerto Rico, wird hier leicht gekürzt veröffentlicht. Info: http://www.nlg.org/Convention-2013

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 243 – 19./20. Oktober 2013

Als ich über den diesjährigen Kongreß »Law for the People« (Rechte für das Volk) der US-Anwaltsvereinigung National Lawyers Guild nachdachte, kam mir unweigerlich der Status Puerto Ricos als Teil des US-Imperiums in den Sinn. Puertoricaner sind von Geburt an Staatsbürger der Vereinigten Staaten, aber inwiefern? Nach geltender Rechts­praxis sind sie jedenfalls anders als die Mehrheit der US-Bürger. Denn obgleich ihnen auch dann, wenn sie auf der Insel und nicht in den USA leben, der Dienst in der Armee offensteht, bleibt ihnen die Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen verwehrt. Puerto Rico ist zwar mit einem Delegierten im Repräsentantenhaus des Kongresses vertreten, dieser verfügt jedoch über keinerlei Stimmrecht.
Diese Definition der Puertoricaner als US-Bürger ohne volle Staatsbürgerrechte begann 1898 mit der Eroberung der Karibikinsel durch die Vereinigten Staaten im Krieg gegen die bisherige Kolonialmacht Spanien und wurde seitdem Schritt für Schritt konkretisiert. Beispielhaft ist die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA im Fall »Balzac gegen Puerto Rico« von 1922, mit der den Bewohnern der Insel das Recht auf eine Verhandlung vor einem Geschworenengericht verweigert wurde. Kernaussage: Diese seien »noch nicht bereit für eine solche Neuerung«.
Wer Zweifel an meiner Argumentation hegt, möge die Begründung der Entscheidung des höchsten US-Gerichts lesen, in der es heißt: »Das System der Schwurgerichte erfordert Bürger, die geschult darin sind, ihre Verantwortung als Geschworene auszuüben. (…) Dieses System setzt eine bewußte Pflichterfüllung bei der Mitwirkung in der Justizmaschinerie voraus, die Menschen schwerfällt, die nicht nach den Grundsätzen einer Volksregierung erzogen wurden und sich dieses Bewußtsein aneignen konnten. (…) Der Kongreß ging davon aus, daß Menschen wie den Philippinos oder Puertoricanern, die an ein geschlossenes Justizwesen gewöhnt sind, das keine Jurys kennt, und die in festgefahrenen und archaischen Gesellschaften mit ausgeprägten Sitten und politischen Konzepten leben, gestattet werden sollte, selbst zu entscheiden, inwieweit und wann sie diese Institution angelsächsischen Ursprungs übernehmen.«
Offensichtlich ist der Oberste Gerichtshof jedoch der Meinung, Puertoricaner und Philippinos seien nicht »angelsächsisch« genug, Schwurgerichtsverfahren durchzuführen. Und auch wenn sich die Zeiten sicherlich geändert haben, bleibt die imperiale Sichtweise der Unterscheidung und Differenzierung, die die Kolonialmacht der Kolonie auferlegt, unverändert. Für Millionen von Puertoricanern, vor allem die politischen Gefangenen, gilt seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute, daß für sie das Recht auf nationale Unabhängigkeit allemal mehr zählt, als das Bürger zweiter Klasse des US-Imperiums zu sein.
In den 1950er Jahren eröffneten Unabhängigkeitskämpfer das Feuer auf Abgeordnete des US-Kongresses, um ihre Forderung nach Unabhängigkeit zu unterstreichen. Lolita Lebrón, Rafael Cancel Miranda und andere wurden dafür 25 Jahre in US-Gefängnissen eingesperrt. In den 1960er und 1980er Jahren setzte eine neue Generation von »Independentistas« diesen Kampf fort, von denen einige deswegen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Am Ende der Amtszeit von Präsident Bill Clinton wurde ein Teil dieser politischen Gefangenen vorzeitig entlassen, weil dieser sich davon einen Vorteil für den Wahlkampf seiner Frau Hillary für das Amt als Senatorin von New York versprach. Andere, wie Oscar López Rivera, befinden sich hingegen bis heute in Haft und gehören zu den am längsten eingesperrten politischen Gefangenen in der Welt.
ir sollten uns nicht täuschen lassen – Puerto Rico ist bis heute eine Kolonie, seit es von den USA als Perle der Karibik besetzt wurde und die spanische Kolonialmacht sich auch zum Rückzug von Kuba gezwungen sah. Puerto Rico ist nicht frei – und vielleicht auch nicht »angelsächsisch« genug.

Übersetzung: Jürgen Heiser


Ausdruck von: http://freedom-now.de/news/artikel1072.html
Stand: 23.11.2024 um 15:44:32 Uhr