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Kolumne # 639 vom 23.03.2013: Das Dorner-Manifest

23.03.13 (von maj) Memorandum des getöteten Expolizisten zeigt, wie Polizei und Medien funktionieren

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 70 – 23./24. März 2013

Im journalistischen Geschäft sind Nachrichten von gestern keine Meldung mehr wert. Sie sind »ausgelutscht«, »veraltet«, »wertlos«. Wobei die fortwährende Jagd nach dem Neuen oft dazu führt, daß man die Themen ignoriert, bei denen es sinnvoll wäre, etwas tiefer in die Materie einzudringen. Ich beziehe mich dabei jetzt auf das Memorandum, das der ehemalige Polizist einer Eliteeinheit des Los Angeles Police Department (LAPD), Christopher Jordan Dorner, verfaßt hat. Wie vor vier Wochen berichtet wurde (siehe jW vom 23.2.2013), war Dorner am Ende eines Feuergefechts mit seinen Exkollegen in den Bergen Süd-Kaliforniens getötet worden.
Sein schriftliches Vermächtnis mit dem Titel »Last Resort« (etwa »Letztes Mittel«) ist 23 Seiten lang, und bislang wurde es von den Medien weder in Gänze veröffentlicht noch wurde fair darüber berichtet. Viele, vielleicht die meisten Reporter vertraten im Gegenteil die Meinung, Dorner sei offensichtlich verrückt, und suggerierten damit gleichzeitig, daß die von ihm selbst dargelegten Gründe für seine Aktionen gegen das LAPD keiner näheren Betrachtung würdig sind. Diese Journalisten sehen ihre Aufgabe wohl eher darin, den Mächtigen zu dienen, als die Öffentlichkeit zu informieren. Ein bekannter Journalist prahlte sogar damit, er habe persönlich eine Postsendung von Dorner erhalten, den Inhalt aber nicht gelesen. Statt dessen hätte er das Päckchen pflichtgemäß der Polizei übergeben. Unglaublich!
Ich habe keinen Internetanschluß in meiner Zelle, aber jemand war so freundlich und hat mir einen Papierausdruck des Textes geschickt. Was ich da zu lesen bekam, war, gelinde gesagt, erstaunlich. Wer hinter die »thin blue line«, also hinter die Kulissen der Polizei schauen möchte, dem kann ich nur dringend empfehlen, Dorners Manifest zu lesen. Da legt jemand wirklich in erster Person Rechenschaft über seine Erfahrungen im Los Angeles Police Department ab und wie er als Afroamerikaner dort behandelt wurde. Dazu gehören auch Dorners energische Reaktionen darauf, wenn jemand in seinem Beisein rassistische Schimpfwörter benutzte.
In einem Beispiel zitiert Dorner den ungezügelten Gebrauch des »N-Wortes«, also des Schimpfwortes »Nigger«, durch einen seiner Polizeikollegen, mit dem er und acht weitere Kollegen in einem Kleinbus saßen. Er machte dem Kollegen klar, daß es für ihn inakzeptabel sei, auch wenn er mit dem Wort eine nicht anwesende Person belegte. Der Kollege wiederholte das Wort jedoch noch einmal und sagte dazu: »Ich sage es, wann ich will!«. Da ging Dorner dem Missetäter an den Kragen und drückte ihm einen Moment die Kehle zu. Als der Vorfall Vorgesetzten gemeldet wurde, wollte mit einer Ausnahme keiner der anderen Polizisten, die mit im Bus gesessen hatten, den Gebrauch des Schimpfwortes gehört haben.
Dorners Text gibt einen Einblick in das Innenleben des LAPD und, was noch wichtiger ist, in die Funktionsweise der Medien. Dorner forderte wiederholt die Journalisten dazu auf, seine Vorwürfe gegen das LAPD zu untersuchen. Aber vier Wochen nach seinem Tod ist kaum noch damit zu rechnen. Das ist jetzt schon wieder »Schnee von gestern«.

Übersetzung: Jürgen Heiser

Link zu Dorners Manifest:
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