Kolumne # 612 vom 15.09.2012: Politik des Verrats
15.09.12 (von maj) Volksvertreter wollen in der Regel das Gegenteil von dem, was sie öffentlich sagen
Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 216 – 15./16. September 2012
Es lohnt nicht, viel Zeit auf Ereignisse wie den kürzlich zu Ende gegangenen Nominierungsparteitag der Demokraten in Charlotte, North Carolina, zu verwenden. Parteikonvente sind halt konventionell. Auf ihnen machen Politiker Versprechungen und haben keinerlei Intention, sie zu halten. Aber um überzeugend zu wirken, setzen sie ihr freundlichstes Lächeln ein, und wenn es sein muß, drücken sie sich auch ein paar Tränen ab. Es sind jedoch weniger die politischen Parteien, die solche Parteitage gestalten, sondern eher ihre Zahlmeister aus der Wirtschaft oder – im Orwellschen »Neusprech« – ihre »Sponsoren«. Veranstaltungsorte, Verköstigung, Fahrdienste und Hotelunterbringung werden als »Geschenke« von Unternehmen deklariert, und das hat natürlich rein gar nichts mit Bestechung zu tun, wertes Publikum!
Mit Ausnahme von Elizabeth Warren aus Massachussetts, Kandidatin für den US-Senat (die sich gegen Korruption und für den Verbraucherschutz stark macht, Anm. jW), hat mich kaum jemand von den Rednerinnen und Rednern auf Obamas Wahlparteitag wirklich interessiert.
Was ich jedoch höchst bemerkenswert fand, war der Auftritt des früheren US-Präsidenten William Clinton und seine Sonntagsrede über Jobs und Wirtschaft. Clinton kann für sich in Anspruch nehmen, der profilierteste Politiker seiner Generation zu sein. Das Ansehen, das er genießt, ist vor allem darin begründet, daß er womöglich auch der intelligenteste von allen ist.
Clinton weiß sehr wohl, daß unabhängig davon, wer bei den US-Präsidentschaftswahlen im November den Sieg davonträgt, die Zeiten von neuen Jobs in der herstellenden Industrie vorbei sind. Und zwar größtenteils wegen des Geschenks, das er höchstpersönlich 1994 den Bonzen der Industrie und des Finanzkapitals gemacht hat: NAFTA. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (North American Free Trade Agreement) öffnete der Flucht von US-Unternehmen in Billiglohnländer Tür und Tor. In den USA wurden dadurch vermutlich Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet – und zwar für immer. Trotzdem wette ich, daß selbst dann, wenn man in jeder Minute dem Ablauf des Parteitags der Demokratischen Partei aufmerksam gefolgt wäre, man nicht ein einziges Mal den Begriff »NAFTA« gehört hätte. Das Freihandelsabkommen hat nicht nur zur allgemeinen Wirtschaftskrise und zum Verlust der Kontrolle über Banken und Hochfinanz beigetragen, sondern für die Arbeiterklasse auch eine Barriere für höhere Löhne in der herstellenden Industrie gesetzt, weil NAFTA den Unternehmen, die niedrigere Löhne zahlen wollen, einen Ausweg ins Ausland bietet.
Expräsident Clinton hat den Abschluß des NAFTA-Abkommens nicht nur flankiert, sondern er hat sich damals richtig dafür ins Zeug gelegt. Er steht für die Politik des Verrats, die das Herzstück der unternehmerfreundlichen Wahlkampfmaschinerie seiner Partei ist. Clinton über die »Schaffung von Arbeitsplätzen« reden zu lassen ist so ähnlich, als wenn man Graf Dracula darüber referieren läßt, wie man sich gegen Vampirbisse wehrt. Denn beide wollen das Gegenteil von dem, was sie sagen. So läuft heutzutage das politische Geschäft, und genau das ist auch der Grund, warum so viele Leute auf Politik keinen Bock mehr haben.
Übersetzung: Jürgen Heiser
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