Kolumne # 507 vom 11.09.2010: Im Banne des Wahns
11.09.10 (von maj) Was die US-Verfassung schützt und was nicht, wird von Fall zu Fall politisch entschieden
Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 212 – 11./12. September 2010
Pastor Terry Jones, Anführer einer christlich-fundamentalistischen Sekte in Gainesville, Florida, hat für den Jahrestag der Anschläge auf Machtsymbole der USA am 11. September 2001 eine öffentliche Verbrennung von Koranbüchern angekündigt. Am Donnerstag hat er seine Aktion abgesagt, später jedoch erklärt, sie sei nur ausgesetzt. Wie immer das Verwirrspiel nun ausgeht, verhindert werden kann diese Provokation angeblich nicht, weil sie unter dem Schutz der in der US-Verfassung garantierten Religions- und Meinungsfreiheit steht.
Vor diesem Hintergrund rückt erneut die von den US-Medien forcierte Auseinandersetzung um den Bau einer Moschee in Manhattan, New York, ins Zentrum des Interesses. Dieses islamische Gebetshaus, gedacht auch als Zeichen der Versöhnung, soll ein paar Straßenblocks von dem Ort entfernt errichtet werden, der »Ground Zero« genannt wird, seit dort die beiden Türme des World Trade Centers nach den Attacken des 11. September eingestürzt sind. Die Kontroverse um die Moschee ist gezeichnet von Argumenten, die wie geistige Molotow-Cocktails durch die Gegend fliegen.
Aber egal, wie diese Auseinandersetzung auch endet, hat sie uns doch jetzt schon gezeigt, wie hohl die US-Verfassung und ihre Bestimmung zum Schutz religiösen Handelns ist. Die Gegner des Moscheebaus räumen zwar ein, daß dieses Recht theoretisch bestehe, aber sie meinen, es müsse ja nicht gerade in dieser Frage angewendet werden. Was für ein Argument gerade von jenen, die vorgeben, auf dem Boden der Verfassung zu stehen! Denn ein Recht, das nicht praktiziert werden kann, ist natürlich faktisch kein Recht. Unweigerlich wird man an die Zeit der »Reconstruction«-Ära zwischen 1865 und 1870 erinnert, als die Sklaverei in den USA offiziell abgeschafft war und Zusätze zur Verfassung die Rechte der Schwarzen schützen sollten. Auf dem Papier sah das alles sehr gut und fortschrittlich aus, aber über hundert Jahre später hatte sich an der Lebensrealität von Millionen Schwarzen nichts geändert. Abgesehen vom nach wie vor herrschenden Alltagsrassismus, durften sie weiterhin nicht wählen, nicht als Geschworene in Gerichtsverfahren fungieren oder im öffentlichen Dienst arbeiten. Die Bürgerrechte waren ihnen auf dem Papier garantiert, sie aber in die Praxis umzusetzen, wurde vor allem von den Weißen der US-Südstaaten, die der Sklaverei nachtrauerten, geradezu als Gesetzesverstoß angesehen. An diesen Widersinn wird man heute erinnert.
US-Amerikaner sehen ihre Verfassung als eine Art heilige Schrift. Ein Dokument, daß über die Jahrhunderte seit der Verkündung im Jahr 1787 durch ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem gegen alle Anfeindungen geschützt wurde. Kaum geschützt wurden und werden allerdings die Rechte, die darin verbrieft sind.
Wenn Menschen nun in einer gesellschaftlichen Kontroverse wie der um die geplante Moschee wütend reagieren oder mit ihrer Weisheit einfach am Ende sind, dann kommen die Politiker des Zweiparteiensystems richtig auf Touren. Sie wissen nur zu gut, daß ihre Wähler ihnen gerade in solchen Stimmungslagen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Dann fühlen Politiker ihre wahre Macht, denn Menschen, die sich in einer Sache derart verrennen, sind zu fast allem fähig. So zogen die protestierenden Moscheegegner dann auch vor kurzem in aufgebrachter Stimmung durch New York und andere US-Städte, nachdem konservative Politiker und Medien sie dazu aufgefordert hatten, öffentlich zu beten und »ihre Gefühle herauszulassen«.
Worum geht es hier eigentlich? Die Moschee ist ein Ort, an dem Muslime ihre Religion ausüben wollen. Nicht »der Islam« hat am 11. September die USA angegriffen, sondern soweit wir wissen eine Gruppe von 19 Männern. Kein Land hat ihre Aktionen gutgeheißen, nicht einmal die damalige Staatsführung Afghanistans. Aber dank der Medien und ihrer politischen Hintermänner befinden wir uns jetzt in einem Schlagabtausch über etwas, das angeblich von der Verfassung garantiert wird. Angst und Wut sind gut fürs politische Geschäft, und noch bevor sie es selbst realisieren, befinden Menschen sich plötzlich im Bann eines Wahns. 2001 und 2003 haben genau solche aufgepeitschten Gefühle den Beginn zweier irrsinniger und katastrophaler Kriege begleitet.
Wohin wird uns die aktuell geschürte Islamophobie führen?
Übersetzung: Jürgen Heiser
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