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Kolumne 8.08.09: Als Journalist in der Hölle

08.08.09 (von maj) Die 450. Kolumne in Folge: Wie der seit Jahrzehnten im Todestrakt Gefangene Mumia Abu-Jamal seine Artikel verfaßt. Wie er sich gegen Schikanen wehrt. Und wie das Leben im Knast manches Mal die ganz bitteren Themen liefert

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 182 - 8./9. August 2009

Wie in jeder Wochenendausgabe veröffentlicht junge Welt auch heute Mumia Abu-Jamals Kolumne – die 450. in Folge seit dem 16. Dezember 2000. In dem Text, der diesmal den doppelten Umfang hat, erläutert der jW-Kolumnist seine Arbeitsbedingungen im Todestrakt der US-Strafanstalt Greene in Waynesburg, Pennsylvania

Als junger Reporter für einen Lokalsender des National Public Radio (NPR), einem in den USA landesweit ausgestrahlten öffentlichen Hörfunknetzwerk, gehörten Wohnungsprobleme zu meinen Themen. In Philadelphia, der ältesten Stadt der Vereinigten Staaten, war kein Mangel an Geschichten über schlechte Wohnverhältnisse. Das war mein Revier. Ganze Stadtviertel wurden dem permanenten Verfall preisgegeben, vor allen in den Stadtteilen, in denen Schwarze, Puertoricaner und arme Weiße lebten. Es sind natürlich gerade diese Geschichten, die einem beim Blick zurück die Vergangenheit deutlicher in Erinnerungen geblieben sind als der Rest.
Obwohl ich über verschiedene Gegenden meiner Heimatstadt berichtete, sind doch die Ereignisse aus dem einen oder anderen Stadtviertel mittlerweile im großen Ozean der Zeit untergegangen. Eine Ausnahme bilden die Mieterproteste eines Mehrfamilienhauses in Southwest-Philadelphia, an dem ich jahrelang vorbeifuhr, ohne meinen Fuß hineinzusetzen. Das änderte sich erst, als ich den Job bekam, über den Kampf der Mieter zu berichten.
Von außen sah dieses Haus attraktiv und unverwechselbar aus. Durch seine Architektur und die reichverzierte Fassade, die noch von einer anderen Epoche zeugten, setzte es sich ab von den Nachbarhäusern. Als es errichtet wurde, waren die daran beteiligten Handwerker noch Künstler, die sich die Zeit nahmen, nicht nur das Mauerwerk hochzuziehen, sondern ihr Werk auch schön aussehen zu lassen.
Nachdem eine Kontaktperson mich über den bevorstehenden Streik informiert hatte, machte ich mich sofort auf den Weg dorthin und betrat das Haus zum ersten Mal. Sein innerer Zustand ließ meinen Atem stocken. In Räumen, in denen Kinder schliefen, hingen die Zimmerdecken bedrohlich herunter. Die Toiletten waren verstopft, generell waren Reparaturen an allen Ecken und Enden nötig, aber seit langem unterblieben, weswegen das Haus für seine Bewohner ein einziger Gefahrenherd war. Die Wortführer des Streiks, mit denen ich sprach, waren verständlicherweise außer sich vor Wut.
Als ich Jahre später noch einmal über diese Begebenheit nachdachte, dämmerte es mir, daß damals nicht in erster Linie die schlechten Wohnverhältnisse das Thema waren, sondern der Widerstand dagegen. Der gab meinem Bericht seine Bedeutung, weil er das Alltagsleben von Menschen aus der Arbeiterklasse zeigte, die sich gegen das Unrecht unangemessener und unerträglicher Lebensverhältnisse zur Wehr setzten.
Seit ich mich nun in den stürmischen Unbilden des US-Gefängnissystems bewege, ist hier mein Revier. An diesen Orten gibt es Tausende Menschen und deshalb auch Tausende von Geschichten, die niemals knapp werden. Manchmal sind es die Fälle, die einen Menschen an diesen Ort gebracht haben, aber mehr noch die juristischen Prozeduren, die sie hierherbrachten. Wie das Herstellen von Wurst, so ist auch das Gerichtsverfahren in den USA bei näherer Betrachtung ein schmutziger und häßlicher Vorgang. Ich habe über ungerechte und falsche Anklagen geschrieben, über entsetzliche Brutalität, atemberaubende institutionelle Dummheit und über Grausamkeiten, die einem das Blut in den Adern gerinnen lassen.
1995 wurde ich von der Gefängnisleitung disziplinarisch bestraft. Man warf mir vor, in der Haft »dem Gewerbe des Journalismus nachzugehen«. Erst nach jahrelangem juristischen Gerangel, einschließlich eines wochenlangen Zivilgerichtsverfahrens, dem ich in Handschellen und Fußfesseln beiwohnen mußte, die so eng angelegt waren, daß meine Gelenke anschwollen und bluteten, trug ich schließlich den Sieg davon, weil der erste Zusatzartikel zur US-Verfassung die Meinungs- und Pressefreiheit und so meine Arbeit als Journalist auch im Gefängnis schützt. Die Sache, um die es bei meiner Klage dabei ging, war diese langwierige Auseinandersetzung jedenfalls wert.
Seit vielen Jahren bedeutet für mich das Verfassen eines Artikels, ihn tatsächlich zu schreiben. Mit einem Kugelschreiber. Auf Knastpapier. Manchmal mit einem zehn Zentimeter langen Flexpen (das ist ein Stift mit einer Tintenpatrone, bei dem der Schaft aus transparentem Gummi besteht, mit zwei ebenfalls aus Gummi hergestellten Kappen an beiden Enden; aus einer schaut die fünf Millimeter breite Feder hervor). Damit schreibt man wie mit einer weichgekochten Nudel. Zwei meiner Bücher habe ich mit solchen Instrumenten geschrieben. Die Manuskriptseiten wurden dann draußen von Freunden oder Lektoren abgetippt.
Im Gefängnissystem ist die Morgendämmerung des Computerzeitalters noch lange nicht angebrochen – jedenfalls in Pennsylvania. Manchmal muß ich schmunzeln, wenn ich Briefe von Leuten erhalte, die mir ganz unbedarft ihre E-Mail-Adresse oder Website mitteilen. Daraus entnehme ich, daß sie wirklich glauben, ich hätte einen Computer hier in meiner Zelle oder zumindest Zugang zu einem und zum Internet.
Leider nein. Nicht nur, daß es hier keine Computer gibt, es gibt auch keine iPods, CDs oder Audiokassetten (obwohl im Anstaltsladen Kassettenrekorder zum Kauf angeboten werden!). Wir befinden uns im Grunde auf der Entwicklungsstufe von Dinosauriern, leben in einem anderen Zeitalter, Lichtjahre entfernt vom Leben der Menschen draußen.
Vor kurzem wurde ein Gefangener namens Amin (Harold Wilson), der fast zwei Jahrzehnte in der Todeszelle zubringen mußte, freigelassen, weil er sich die Wiederaufnahme seines Verfahrens erkämpft hatte und im neuen Prozeß von mehreren unrechtmäßigen Mordanklagen freigesprochen wurde. Er verließ das Kreisgefängnis in Philadelphia mit nichts als seiner irdischen Habe, die in einen Müllsack paßte, und einer Busfahrkarte. Ein anderer Gefangener aus der Gegend, ein puertoricanischer Bruder, der gleichzeitig nach einer Kurzstrafe entlassen wurde, sah die Ratlosigkeit in Amins Gesicht und bot ihm sein Mobiltelefon an, um jemanden anzurufen. Amin starrte auf den kleinen Apparat in seiner Hand und fragte: »Was mache ich damit?« Er hatte absolut keine Ahnung, was er mit dem komischen Ding anfangen sollte, weil er nie zuvor eins gesehen oder in der Hand gehalten hatte. Als er mir später davon erzählte, sagte er: »Mann, das kam mir vor wie’n Ding direkt aus Star Trek!«
Manchmal fliegen mir die Geschichten auch völlig ungebeten und ungewollt zu. Bill Tilley, ein heiterer Gefangener, den alle mochten und der sich ständig als jailhose lawyer (in etwa: Knastanwalt) für andere Gefangene einsetzte, war es vor ein paar Monaten leid, sich seinen Kopf immer wieder an den grauen Betonmauern der Justiz blutig zu rammen. Außerdem befürchtete er, daß seine schlimmer werdenden körperlichen Beschwerden Vorboten einer Krebserkrankung waren. Eines Tages stand er morgens auf, band die Schnürsenkel seiner Joggingschuhe zu einem Strick zusammen, knotete ihn an das Stahlgitter seiner Zellenbelüftung und erhängte sich damit.
Nach seinem Tod liefen Gerüchte durch den Trakt, Bill sei tatsächlich an Krebs erkrankt gewesen, das medizinische Anstaltspersonal habe ihn aber darüber im unklaren gelassen. Schließlich war er Gefangener im Todestrakt, und der Staat wirft kein Geld für einen Patienten aus dem Fenster, der sowieso bald sterben muß.
Noch Wochen vor seinem Tod hatte Tilley ein paar Freunden gesteckt, daß er wegen seiner heftigen Beschwerden den Verdacht hege, er litte an Krebs. Aber egal, ob das nun zutreffend war oder nicht, die Schmerzen hatten ihn so sehr gepeinigt, daß er hinzufügte: »Sowas möchte ich nie – niemals! – wieder erleben!«
Wir verstanden damals nicht, daß er uns damit eigentlich seine Absicht offenbart hatte, Selbstmord zu begehen. Vielleicht hat er nur mit anderen Worten ausgedrückt, daß er weniger den Tod, sondern mehr den Schmerz fürchtete. Er starb kaum zehn Meter von der Zelle entfernt, in der diese Worte niedergeschrieben werden. Ich schrieb die Story auf, aber das war alles andere als ein Vergnügen.
Es gibt Tausende und Abertausende dieser Geschichten in diesem »Haus der Pein«, und ich habe Hunderte davon niedergeschrieben. Hier in meinem verborgenen Revier, in das auch die unerschrockensten Journalisten nicht vordringen können. Ja, das ist mein Revier. Und ich werde diesen Job hier mit der gleichen Gründlichkeit und Professionalität erfüllen wie seinerzeit draußen. Denn auch wenn dies hier eine verborgene Welt ist, die sich allen Blicken entzieht, so ist sie doch auch eine öffentliche Welt, weil sie mit den Steuergeldern der Bürger geschaffen wurde.
Sollte die Öffentlichkeit nicht erfahren, was mit ihrem Geld geschieht? Nach Kräften erstelle ich mehrmals im Monat meine Arbeiten und biete sie an – in geschriebener oder per Telefon übermittelter gesprochener Form, für Zeitungen, Radiosendungen oder Sammlungen meiner Kolumnen und Essays in Buchform. Ich kämpfe dagegen, daß ich hier sein muß, aber bin ich hier. Und solange ich hier bin, heißt das für mich: »The beat goes on«.

Übersetzung: Jürgen Heiser

 
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