Kolumne 20.06.09: Legende und Wirklichkeit
20.06.09 (von maj) Vor 55 Jahren wurden Apartheidschulen in den USA abgeschafft – soziale Diskriminierung blieb
Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 140 - 20./21. Juni 2009
In vielen Ländern dieser Welt kämpfen Schülerinnen und Schüler für Verbesserungen ihrer Bildungseinrichtungen. Sie haben dabei sehr unterschiedliche Ausgangsbedingungen.
In den USA liegt es inzwischen 55 Jahre zurück, daß der Oberste Gerichtshof den Fall »Brown kontra Board of Education« entschied. Der Name dieses Grundsatzurteils ist die Sammelbezeichnung für fünf Fälle, die das höchste Gericht der USA in der Zeit von 1952 bis 1954 verhandelte. In ihren Klagen gegen vier Bundesstaaten und den Bundesdistrikt Washington D.C. vertraten betroffene afroamerikanische Eltern, daß nach Hautfarbe getrennte öffentliche Schulen den Gleichheitsgrundsatz der US-Verfassung verletzen. Der Oberste Gerichtshof schloß sich dieser Argumentation mit seinem Grundsatzurteil vom 17. Mai 1954 einstimmig an und hob damit die vorher fast hundert Jahre geltende Rechtsprechung auf. Die Entscheidung markierte das Ende der Trennung von Schwarz und Weiß an staatlichen Schulen, die dann im Alltag allerdings immer noch mit Polizei und Nationalgarde gegen einen gewalttätigen weißen Mob durchgesetzt werden mußte.
Landläufig galt diese Entscheidung als ein Meilenstein der Geschichte, der das öffentliche Schulsystem der USA von Grund auf verändert hat. Aber stimmt diese Annahme wirklich? Zweifellos war dieses Urteil ein Schlag gegen die gängige Praxis der Apartheid im Bildungssystem, weil damit öffentlich dokumentiert wurde, daß das Schulsystem der USA traditionell auf Ungleichheit und Rassismus beruhte – ein Verstoß gegen den 14. Zusatzartikel der Verfassung.
Wie ist nun die Situation des heutigen öffentlichen Schulsystems? Millionen Schülerinnen und Schüler in den ärmeren Vierteln der Städte besuchen heute Schulen, in denen sie faktisch nach Hautfarbe getrennt unterrichtet werden wie vor über fünfzig Jahren. Wie das sein kann? Im Unterschied zu damals, als die Lage an den Schulen Folge eines gewachsenen Apartheidsystems und politischer Entscheidungen war, läuft die Trennung heute entlang einer ökonomischen Linie: die Haushalte der einzelnen Schulen speisen sich aus dem Steueraufkommen des Stadtteils, in dem sie angesiedelt sind. Wenn das Viertel also zu den ärmeren gehört und folglich das Steueraufkommen gering ist, gibt es auch nur geringe Ressourcen für die dortigen Schulen. Wer in Mietskasernen und Sozialwohnungen lebt, geht deshalb automatisch in entsprechend schlecht ausgestattete Schulen. Die sogenannte Rassentrennung wurde gesetzlich abgeschafft, aber die Klassenunterschiede bestehen fort. Gesetzesänderungen führen nicht automatisch zu Veränderungen im Leben der betroffenen Menschen.
Es existieren aber noch weitere Ursachen für die desolate Lage des öffentlichen Schulsystems. Die Mehrheit der Weißen zog aus den Innenstädten in die Vororte, wo Privatschulen gegründet wurden, deren Aufnahmekriterien und von den Eltern zu tragenden Kosten zu einer legalen Auslese führten. Die Einführung von Bildungsgutscheinen hat an dieser Entwicklung nichts geändert, weil es wiederum nur bestimmte Eltern waren, die sich auf diesem Weg staatliche Gelder beschafft haben, um das Schulgeld für private oder gar konfessionelle Schulen zahlen zu können. Das alles hat zur Folge, daß die allgemeinbildenden Einrichtungen in den Innenstadtghettos im Durchschnitt fünfzigprozentige Raten von Schulaussteigern aufweisen.
Das großartig angekündigte Programm »No Child Left Behind« (Kein Kind bleibt zurück) der Bush-Regierung sollte diese Situation verändern. Das ist aber nicht nur völlig gescheitert, so daß heute niemand mehr ernsthaft darüber spricht. Vielmehr wird der Name des Programms im allgemeinen Bewußtsein mittlerweile als Verbrämung der Tatsache begriffen, daß buchstäblich kein Kind mehr in diesem öffentlichen Schulsystem bleiben will.
Übersetzung: Jürgen Heiser
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