Kolumne 23.05.2009: Ein Stück Papier
23.05.09 (von maj) Mythos und Wirklichkeit: US-Verfassung als Staatsreligion – aber wo bleiben die Rechte der Armen?
Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 118 - 23./24. Mai 2009
Von Kindesbeinen an hören wir in den USA, daß unsere glorreiche Verfassung das Herzstück der amerikanischen Staatsreligion ist. Schulkindern wird traditionell beigebracht, weite Teile der Verfassungsbestimmungen nachzubeten. Das Ganze eingebettet in die nationale Mythologie von den »Gründungsvätern«, die verehrt werden wie Superstars, weil sie der Nation angeblich himmlische Freiheiten auf Erden beschert haben.
All das ist Glaubensbekenntnissen ähnlich, die uns schon in der Kindheit eingebleut wurden und die oft nur schwer wieder abzuschütteln sind, weil sie zum Fundament unseres Denkens geworden sind. Alle Nationen verfügen über solche Gründungsmythen. Die Griechen beispielsweise glaubten über Jahrhunderte an die Existenz einer Ruhmeshalle launenhafter und nicht selten übelwollender Götter wie Zeus, Pallas Athene, Hera und Ares, dem Gott des Krieges, und erklärten sich aus deren Wirken die Unwägbarkeiten und Mühen von Leben und Tod.
Die »Gründungsväter«, wie über sie bis heute in den US-Schulen gelehrt wird, sind ein aktueller amerikanischer Mythos. Wie kann es aber sein, daß Sklavenherren gleichzeitig die Schöpfer der Freiheit sein sollen, solange sie nicht auch ihre Sklaven in die Freiheit entlassen? Fast alle dieser Begründer der Nation der Vereinigten Staaten von Amerika – George Washington, Thomas Jefferson und sogar Patrick Henry, der vor der Virginia Convention 1776 sagte: »Gebt mir Freiheit, oder gebt mir den Tod!« – hielten Sklaven auf ihren Besitztümern.
Abdul Jon, ein antirassistischer Aktivist, sagte einmal: »Man muß nur dann über Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und alle anderen Arten von Grundrechten sprechen oder schreiben, wenn man nicht über sie verfügt. Denn wenn man diese Freiheiten genießt und mit niemandem ein Problem hat, der sie ebenfalls genießen kann, wenn diese Freiheiten also verwirklicht sind, dann muß man sich auch keine Gedanken darüber machen, wie sie zu schützen sind.« Ein wahres Wort!
Als sich 1865 in den USA der Rauch des Kampfgetümmels nach vier Jahren Bürgerkrieg verzog, verabschiedete der US-Kongreß die »Reconstruction Amendments« als Zusätze zur Verfassung. Diese Bestimmungen garantierten Millionen befreiten Sklaven, von denen viele auf seiten der siegreichen Unionstruppen gekämpft hatten, die uneingeschränkte US-Staatsbürgerschaft. Die Regelungen verboten Diskriminierung und garantierten männlichen Bürgern das Wahlrecht. Allerdings nur auf dem Papier.
In Wirklichkeit wurden diese Verfassungsrechte der afroamerikanischen Bevölkerung durch den Terror weißer Haßorganisationen, durch rassistische Gerichte und Gesetze weitere hundert Jahre lang vorenthalten. Und das geschah sowohl auf höchster Regierungsebene als auch auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten, bis ab der Mitte des 20. Jahrhunderts die schwarze Bürgerrechtsbewegung erstarkte und Forderungen nach gleichen Rechten stellte.
Daraus entstand allerdings ein weiterer Mythos, der glauben machte, diese Bewegung hätte allen Schwarzen neue Freiheiten gebracht oder diese seien von urplötzlich erleuchteten Gerichten garantiert worden. Die Wahrheit ist, daß zwar Rechte errungen wurden, aber nur für die, die sie sich auch leisten können. Mit anderen Worten: Die Freiheiten kamen erst einmal nur der schwarzen Mittelschicht zugute, weil sie über die Mittel zu ihrer Verwirklichung verfügte.
Für die breite Mehrheit der in Armut oder am Rande des Existenzminimums lebenden afroamerikanischen Bevölkerung aber haben die verfassungsmäßig garantierten Rechte eine Bedeutung von der Art, wie sie der französische Schriftsteller Anatole France (1844–1924) ironisch beschrieb: »Das Gesetz verbietet mit seinem hoheitlichen Gleichheitspostulat sowohl den Reichen als auch den Armen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen!«
Was ist mit dem verfassungsmäßigen Recht auf Bildung, Wohnung und Arbeit oder dem Recht auf Leben? Solange nur ein Stück Papier angebetet wird, wird alles bleiben wie bisher – die einen feiern ihre Verfassung, während den anderen weiterhin ihre Rechte vorenthalten werden.
Übersetzung: Jürgen Heiser
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