Kolumne 9.05.09: Der Fels in der Brandung
09.05.09 (von maj) Über das Verhältnis der Stammesgesellschaften zur fragilen Konstruktion der Nation
Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 107 - 9./10. Mai 2009
Das Ansteigen der Kampfhandlungen in Afghanistan und der immer noch andauernde Krieg in Irak werfen aufs neue eine Frage auf, die nach wie vor unbeantwortet ist. Sie lautet, was genau eine Nation definiert, warum ein bestimmtes Land eine Nation ist und zu welcher Zeit.
Wenn wir über Irak, Afghanistan oder Pakistan als Nationalstaaten sprechen, dann meinen wir damit in Wahrheit die politischen und wirtschaftlichen Eliten in ihren Haupt- und Großstädten und neue politische Identitäten, die nicht einmal in diesen Staaten voll anerkannt sind. Bei vielen Nationen, die ehemals Kolonien waren, wurden die Grenzen von europäischen Diplomaten gezogen und nicht von Einheimischen. Die Interessen der Letzteren spielten dabei keine Rolle, sondern ausschließlich die der Kolonialherren.
Als der frühere Präsident Pakistans Pervez Musharraf geboren wurde, existierte die pakistanische Nation noch nicht. Er wurde als Bürger des nordwestlichen Indiens geboren.
In vielen Ländern dieser Region sehen sich Millionen Menschen zuerst und vorrangig als Angehörige von Stammesgesellschaften, die seit alters her existierten, und nur ihnen fühlen sie sich in Treue verbunden. Sie heißen Paschtunen, Punjabi oder Tadschiken.
Ayaan Hirsi Ali wurde 1969 in der somalischen Hauptstadt Mogadischu als Angehörige des Clans der Majerteen-Darod geboren. In ihrem autobiografischen Werk mit dem Titel »Infidel – My Life« (deutsche Ausgabe: »Mein Leben, meine Freiheit. Die Autobiographie«) erinnert sie sich an eine Begebenheit ihrer Kindheit in Somalia. Zusammen mit ihrer Schwester mußte sie im Hinterhof ihres Zuhauses vor ihrer Großmutter den Stammbaum ihres Clans aufsagen. Ihre respekteinflößende Großmutter wachte dabei mit einer Gerte über sie, und wehe eins der Kinder vergaß einen der Ahnen oder übersprang ihn. Die Großmutter verlangte nicht, daß sie die Herrschergeschlechter Somalias aufsagen konnten, für sie waren allein die Abstammungslinien ihrer Sippe, ihres Clans oder seine verwandtschaftlichen Abzweigungen von Bedeutung.
Für Millionen und Abermillionen Menschen in Afrika oder Südasien ist der Clan die wichtigste gesellschaftliche Größe. Nationen sind vergänglich. Bevor es Nationen gab, lebten alle in Clans oder Sippen. Gerät jemand in Not oder Bedrängnis, hilft ihm der Clan. Droht jemandem Gefahr, steht die Sippe hinter ihm.
Die Nation erscheint vor diesem Hintergrund als eine Ansammlung von Fremden. »Nation« ist die weit entfernte Hauptstadt, die repressive Macht, die Steuern erhebt und das unerwünschte Militär schickt.
Unter Präsident Obama wollen die USA ihre Truppenstärke in Irak verringern, aber in Afghanistan erhöhen. Dort sehen sie sich mit Kräften konfrontiert, mit denen es die herrschenden Eliten der USA seit langer Zeit nicht mehr zu tun hatten. Machtvolle Stammesgesellschaften werfen sich ihnen nun in Afghanistan und Pakistan entgegen, wie einst die von den Europäern sogenannten Indianer, die Ureinwohner der amerikanischen Region. Diese Stammesgesellschaften sind die eigentliche politische und soziale Macht hinter den verknöcherten und oftmals korrupten Nationalregierungen, in die die US-Regierung Millarden investiert, damit sie ihre Interessen vertreten.
Hinter der Fassade der formalen Nationalstaaten mit all ihren Strukturen, die US-Amerikaner so schätzen, sammeln sich unbemerkt jene Kräfte, die wirklich in diesen Staaten etwas bewegen und sie erschüttern können, die wahren Former der Identität der Mehrheit der Bevölkerung – die Stammesgesellschaften. Sie sind der Fels in der Brandung, an dem das Dampfschiff USA mit seinen immensen Kraftanstrengungen, seinen Milliardeninvestitionen und seiner gesamten Militärmacht früher oder später zerschellen wird.
Übersetzung: Jürgen Heiser
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