Rassismus – ein wesentlicher Bestandteil der US-Geschichte und des US-Rechtssystems
27.03.09 (von ivk) Beitrag auf der Podiumsdiskussion zum 27. Jahrestag der Verhaftung Mumia Abu-Jamals am 9. Dezember 2008 in Berlin im Rahmen der weltweiten FREE-MUMIA-Aktionswoche // Von George Pumphrey
Zu Beginn des Jahres 2008 schrieb Mumia Abu-Jamal in einer Samstagskolumne in »junge Welt«:
»Auf negative Beschlüsse oder Fehlurteile von Gerichten wird nicht selten überrascht oder gar schockiert reagiert. Offensichtlich liegt das Moment der Überraschung in der falschen Annahme, Gerichte wären grundsätzlich in der Lage, richtig zu entscheiden. Wenn aber die Geschichte unsere Lehrmeisterin ist und wir unser Urteil über die Justiz von historischen Erfahrungen ableiten, dann sollte es eher überraschen, wenn Gerichte einmal wirklich gerecht oder richtig entscheiden. Die Justiz ist eine politische Institution, und in der Politik geht es weniger um die Frage, was richtig und was falsch ist; es geht vielmehr um Macht, und wer sie hat oder eben nicht.«
Um die Anwendung der Todesstrafe in den USA zu verstehen, muss man zwei Aspekte berücksichtigen: Den Rassismus, als wesentlichen Bestandteil der gesamten US-Geschichte und die selektive Anwendung bzw. den Abbau demokratischer Rechte. Diese beiden Aspekte zusammen genommen erklären warum Hunderte von unschuldigen Menschen hingerichtet wurden, oder in den Todeszellen sitzen, warum Tausende unschuldig im Gefängnis sind und warum die Chancen geringer werden, dass ein Gericht ihre Unschuld anerkennt.
Um zu verstehen wie sehr die Anwendung der Todesstrafe vom Rassismus geprägt ist, muss man zurück in die Geschichte. Die anglo-amerikanische Form der Sklaverei unterschied sich von allen anderen Sklavereien. Die britische Besitzsklaverei, die nur gegen Afrikaner angewendet wurde, war eine rassistische, eine lebenslängliche und eine erbliche Institution, d.h. sie betraf nicht nur die Generation, die in Ketten nach Amerika gebracht und dort an Sklavenhalter verkauft wurde, sondern auch ihre Nachgeborenen.
Die Sklaven hatten keinerlei Rechte. Selbst familiäre Verbindungen waren verboten. Paare wurden getrennt verkauft, ebenso Kinder von ihren Eltern. Der Sklavenhalter hatte per Gesetz die absolute Macht über seine Sklaven. Er konnte sie ungehemmt foltern – Foltermethoden wurden sogar per Sklavengesetz detailliert vorgeschrieben. Und wenn ein Sklave unter der Folter starb, hatte das keinerlei rechtliche Folge für den Sklavenhalter.
Der 4. Juli 1776 ist das offizielle Geburtsdatum der USA. An diesem Tag wurde die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet, die die höchsten Ideale der Aufklärung betont: Gleichheit aller Menschen, ihre unveräußerlichen Rechte auf Leben, Freiheit, Streben nach Glück und nicht nur das Recht sondern die Pflicht der Unterdrückten gegen jede Form der Tyrannei zu rebellieren und sie abzuschaffen.
Die Unabhängigkeitserklärung war revolutionär und von großer Bedeutung im ersten antikolonialen Kampf der Neuzeit. Man muss aber wissen: der Autor der Erklärung, Thomas Jefferson, hatte in seinem Entwurf die Institution der Sklaverei angeprangert. In der Endfassung aber, wird die Sklaverei nicht mehr erwähnt. Die USA ist mit einer Doppelmoral geboren.
Die US Verfassung, die 12 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung ratifiziert wurde, war deutlich, sie schrieb die Sklaverei fest. Sie gab Schwarzen 3/5 den Wert von Weißen, Sklaven durften weiter importiert werden und Sklaven, die in den Norden geflüchtet waren, mussten zu ihren Sklavenhaltern zurück gebracht werden. Der rechtlose Status von Sklaven während der Kolonialzeit wurde also in den unabhängigen USA weitergeführt. Der Widerstand gegen die Sklaverei wuchs. Es kam zu Sklavenaufständen und immer mehr Sklaven sind in den Norden geflohen oft auch mit Hilfe von Weißen. Weiße strengten Prozesse gegen Sklavenhalter an.
1857 entschied das Oberste Gericht im Fall des Sklaven Dred Scott, dass »Schwarze keine Rechte haben, die von Weißen respektiert werden müssen« und dass Schwarze - ob Sklave oder nicht - keine Bürger der Vereinigten Staaten sein können. Diese Entscheidung – bekannt als Dred-Scott-Urteil – war einer der Auslöser des Bürgerkrieges.
Viele meinen, dass die Sklaverei nach dem Bürgerkrieg auch verfassungsrechtlich abgeschafft wurde. Das stimmt nur zum Teil. Mit dem 13. Verfassungszusatz 1865 wurde die Sklaverei und Zwangsarbeit zwar generell abgeschafft, aber sie ist auch ausdrücklich erlaubt »als Strafe für ein Verbrechen aufgrund eines rechtmäßigen Urteils«.
Nach dem Bürgerkrieg waren die Sklaven zwar befreit, aber viele waren ohne Arbeit und ohne Unterkunft. Viele wurden wegen „Landstreicherei" verhaftet und zu Zwangsarbeit verurteilt und als Arbeitskraft an ihre ehemaligen Besitzer ausgeliehen. Der 14. Verfassungszusatz machte uns 1868 zu vollen Bürgern der USA und zwei Jahre später erhielten wir das Wahlrecht. Die früheren Sklavenhalter und Rassisten antworteten mit Terror. Der Ku-Klux-Klan und andere faschistische Organisationen wurden gegründet und Gesetze der Rassentrennung erlassen. 1896 entschied das Oberste Gericht die Rassentrennung sei verfassungskonform. Die Segregation wurde in den ehemaligen Sklavenhalterstaaten umfassend institutionalisiert.
Es folgte ein langer Kampf gegen die Apartheid, der Mitte der 50iger Jahre einen ersten Erfolg erzielte mit der Entscheidung gegen die Rassentrennung in den Schulen. Die Reaktion der Rassisten wurde immer brutaler. Der Bürgerrechtskampf entsprechend härter und erfasste Millionen, um die restlichen Mauern der Apartheid und Diskriminierung niederzureißen.
Die Antirassismus Bewegung ergriff bald den Norden, denn dort herrschte zwar keine offizielle Rassentrennung aber alltägliche Rassendiskriminierung. Die Ghettoaufstände wurden von Jahr zu Jahr heftiger. 1967 berief Präsident Lyndon Johnson eine Sonderkommission, um die Hintergründe der Aufstände zu untersuchen.
Die Kommission kam zu folgendem Ergebnis: »Unsere Nation bewegt sich in Richtung zweier Gesellschaften, eine schwarze und eine weiße, getrennt und ungleich. (...) Bei Weiterführung des gegenwärtigen Kurses, wird die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft vertieft und im Endergebnis, die grundlegenden demokratischen Werte zerstört (...) Was Weiße Amerikaner noch nie richtig verstanden haben – und was die Schwarzen nie vergessen können – ist, dass die weiße Gesellschaft tief in das Ghetto verwickelt ist. Weiße Institutionen haben das Ghetto geschaffen, Weiße Institutionen halten es aufrecht, und die weiße Gesellschaft gibt ihre Zustimmung.« Dieser Bericht wurde im März 1968 veröffentlicht. Wenige Wochen später, am 4. April 1968 wurde Dr. Martin Luther King ermordet. Die Regierung hatte sich entschieden.
Der Schuss, der Martin Luther King tötete, war der Startschuss eines Krieges gegen die Demokratie in den USA. 1968 wurden mehrere Maßnahmen getroffen, um den Unterdrückungsapparat zu konsolidieren und die politische Repression bundesweit zu koordinieren.
Die Bürgerrechtsbewegung und die Antikriegsbewegung hatten ein so hohes Maß an Ansehen erlangt, dass nicht nur Dr. King zum Schweigen gebracht werden musste. Die Bewegungen sollten gespalten und auseinander getrieben werden. Und nachdem dies erledigt ist, sollte alles getan werden, damit nie wieder so einflussreiche Bewegungen entstehen könnten.
Als in Reaktion auf Martin Luther Kings Ermordung mehr als 100 Städte in Flammen aufgingen, forderten einige Politiker sogar den McCarren Akt anzuwenden, um einen Notstand auszurufen, der es ermöglicht hätte, die Schwarzen Demonstranten in Konzentrationslager einzusperren. (Der McCarren Akt stammt aus der Zeit der Kommunistenjagd in den USA, Ende der 40iger bis Ende der 50iger Jahre.) Der Präsident lehnte es ab.
Doch es sollte zu bedenken geben, dass im Auftrag des Präsidenten kurz danach die »Nationale Kommission zu Ursachen und Vorbeugung von Gewalt« eine Umfrage in Auftrag gab, um zu erfahren, welche Reaktionen zu erwarten wären, wenn die Regierung die afroamerikanische Bevölkerung massenhaft verhaften würde. Die Frage lautete: »Stellen Sie sich vor, die Regierung hat viele Schwarze in Ihrer Stadt verhaftet und weggesperrt, obwohl diese keinerlei Probleme verursacht hatten. Wie würden Sie reagieren?« Die Auswertung der Soziologen war wie folgt: »Weiße Amerikaner wären offensichtlich in der überwiegende Mehrheit ›Good Germans‹«. Nur 18 Prozent würden gewaltlos protestieren und 9 Prozent auch mit Gewalt. 43 Prozent der Afroamerikaner hingegen wären bereit zu zivilem Ungehorsam und 25 Prozent auch zur Gewalt.
Seit Kings Ermordung wurde der Repressionsapparat systematisch neu orientiert. Es geht nicht mehr um Straf-Recht – was ein Vergehen oder Verbrechen voraussetzt – sondern vor allem um Wegsperren und Liquidieren.
Die Polizei wurde militarisiert und weitgehend mit Kriegswaffen ausgerüstet. In den Ghettos agieren Polizisten wie Soldaten auf feindlichem Territorium. Es geht kaum noch darum, »Verdächtige« zu verhaften und vors Gericht zu bringen. Verdächtige werden nicht selten sofort als »Kriminelle« erschossen und »Beweise« werden nachträglich an den Tatort gelegt, damit es wie Notwehr aussieht. Wie Mumia es ausdrückte: »In den USA ist es immer noch so, dass die Hautfarbe allein schon ein ›Verbrechen‹ ist.«
Auch die Funktion der Gerichte hat sich verändert. Es geht kaum noch darum Schuld oder Unschuld zu untersuchen. Die meisten Prozesse dauern heute nur noch ein paar Minuten. Der Richter verliest die Anklagepunkte, der Angeklagte erklärt sich für schuldig und das Urteil wird verkündet. Dem geht das sogenannte Plea Bargaining voraus. Das sieht so aus: Der Ankläger erhebt möglichst viele Anklagepunkte, egal ob er Beweise dafür hat oder nicht. Mit der Androhung langjähriger Gefängnisstrafen oder der Todesstrafe soll der Angeklagte davor abgeschreckt werden, auf einen normalen Prozess zu bestehen. Dem Angeklagten, der meist schon Monate in U-Haft ist, wird eine leichtere Strafe versprochen, wenn er sich vor Gericht zu einem der Anklagepunkte schuldig bekennt – auch wenn er tatsächlich keines der Verbrechen begangen hat. Da die meisten Angeklagten aus armen Verhältnissen kommen, sind sie auf Pflichtverteidiger angewiesen. Ihre Pauschale erlaubt keinen langen Prozess, um eventuell die Unschuld der Angeklagten zu beweisen. Dieses Plea-Bargaining wird heute in 90 Prozent der Fälle angewendet und gilt als wirtschaftlich vernünftig, da es dem Staat weniger kostet.
Gesetze wurden in den letzten Jahren so geändert, dass es sehr schwer und kostspielig ist, in Berufung zu gehen.
Von 1987 bis 2007 ist die Kriminalitätsrate in den USA um 25 Prozent gesunken, während sich die Inhaftierungsrate verdreifacht hat. Die USA sind inzwischen Weltmeister im Inhaftieren. Mehr als 2.300.000 Männer und Frauen – 25 Prozent aller Gefangenen in der Welt – sind in US-Gefängnissen. Kein anderes Land der Welt – nicht einmal China mit mehr als viermal so vielen Einwohnern – hat so viele Gefangene. In den USA gibt es inzwischen mehr Gefangene als Bauern.
Mumia schrieb dazu: »Einer der Gründe, warum die USA auf diesem Gebiet weltweit absolut führend sind, ist die Tatsache, dass das Gefängnissystem in den vergangenen Jahrzehnten in einen bedeutenden Wirtschaftszweig umgewandelt wurde. Als Begleiterscheinung wurden viele neue Arbeitsplätze in neu gebauten Gefängniseinrichtungen geschaffen – gerade in ökonomisch schwachen Gegenden, in denen beispielsweise Bergbau und Schwerindustrie zusammengebrochen sind und in der Folge ein Arbeitslosenheer entstand.« Mumia hatte in seinem Buch »…aus der Todeszelle« 1995 vor dieser Entwicklung gewarnt, weil gegen immer mehr Angeklagte immer höhere Strafen verhängt wurden.
Das Gefängnissystem, ist inzwischen zu 23 Prozent privatisiert und für viele Unternehmen lukrativ, denn die unbezahlte bzw. unterbezahlte Arbeit der Gefangenen bringen für sie große Profite. Anfang des Jahres saßen 3.263 Gefangene in den Todeszellen der USA. 42 Prozent davon Afroamerikaner obwohl sie nur 12,8 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Die Situation ist düster, aber es hat auch Fortschritte gegeben, gerade im Hinblick auf die Todesstrafe:
2003 hatte der Gouverneur von Illinois, George Ryan, als letzte Amtshandlung die Todesstrafe der 156 Gefangenen in den Todeszellen in lebenslänglich umgewandelt.
2004 hatte der Oberste Gerichtshof des Staates New York die Todesstrafe, wie sie im Staat praktiziert wurde als verfassungswidrig erklärt. Seitdem gibt es in New York de facto keine Todesstrafe.
2008 entschied der Oberste Gerichtshof von Nebraska, dass der Elektrische Stuhl als Hinrichtungsmethode verfassungswidrig ist. Seitdem hat auch Nebraska die Todesstrafe ausgesetzt. Die Anzahl der Gefangenen, die zum Tode verurteilt worden sind, sinkt seit einigen Jahren.
Wenn dies Ergebnis eines Umdenkens sind, dann haben auch Mumia und die Solidaritätskampagne für ihn einen großen Anteil daran. Mumia hat durch seine Artikel, Kolumnen und Radiosendungen das Scheinwerferlicht auf die Todesstrafe und auf die Ungerechtigkeit im US-Justizsystem geworfen. Die US-Regierung sorgt sich natürlich um ihr »Menschenrechts«-Image im Ausland. Mumias Anwalt Robert Bryan betont immer wieder, dass die Unterstützung für Mumia, die aus Deutschland und Frankreich kommt, auch für den Kampf in den USA maßgebend ist.
Unser Kampf muss weitergehen und mehr Menschen und breitere Kreise einschließen, damit – um in den Worten Mumias zu reden – »die Überraschung kommt, dass das Gericht einmal wirklich gerecht oder richtig entscheidet«.
Mumia schrieb in der Kolumne, die ich eingangs zitierte „Das Gesetz und die Gesetzgeber haben sich immer schon nur dann bewegt, wenn die Machtlosen sich organisierten, um sie zu Veränderungen zu zwingen. Frederick Douglass, legendärer Gegner der Sklaverei und Freiheitskämpfer, hat es auf den Punkt gebracht: »Die Mächtigen gewähren nichts, wenn es ihnen nicht abgefordert wird. Das war immer so und wird immer so sein.«
Und ich möchte hinzufügen, das wird auch so sein unter einem Präsidenten mit einem sympathischen braunen Gesicht.
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