Kolumne 18.02.06: Die wahre Lage der Nation
18.02.06 (von maj) Das Staatstheater des US-Präsidenten kann die tatsachlichen Widersprüche immer weniger verbergen
Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr.42, 18./19. Februar 2006
Kürzlich trat US-Präsident George W. Bush wie so oft vor den Kongreß und sprach über die »Lage der Nation«. Diese Aufgabe gehört zur hohen Staatskunst oder besser gesagt: sie ist gekonnt gespieltes Staatstheater, bei dem es darum geht, sich durch die Verbreitung von Illusionen der Gefolgschaft des Plebs zu versichern.
Nach biblischer Überlieferung machte der Pharao Ähnliches, wenn er die Priester aufforderte, ihre Priesterstäbe zu Boden zu werfen und sie in Nattern zu verwandeln. Seit dem Altertum setzten die Prinzen und Fürsten diese Art von Staatstheater ein, um das Volk ruhig zu halten und ihm die Macht der Herrscher vorzuführen.
Doch wie immer ist die Sicht von unten völlig verschieden gegenüber der von oben, aus den Tempeln der Herrschaft. Zehntausende Arbeiter in der US-Automobilindustrie sind erschüttert von den letzten Nachrichten, daß ihre Arbeitsplätze abgebaut werden sollen. Im krassen Gegensatz dazu hatte General Motors (GM) Ende letzten Jahres verkündet, der weltweite Verkauf von 9,17 Millionen Fahrzeugen im Jahr 2005 sei das zweitbeste Ergebnis in der Geschichte des Unternehmens. Was sollen die Arbeiter angesichts dieses Widerspruchs von der »Lage der Nation« halten?
Vor dem Hintergrund der im Nahen und Mittleren Ostens geschürten Wut und der Gier der USA nach dem »schwarzen Gold« streifte der Präsident das Thema in seiner Rede auf eine absurde Weise, als er sagte: »Amerika ist abhängig vom Öl, das oft aus instabilen Teilen der Welt importiert werden muß.« Was heißt hier »instabil«? Angeblich hat doch der Krieg gegen Irak der Region Stabilität gebracht. George W. Bushs Kommentar kommt einem wie der eines Crack-Abhängigen vor, der sich darüber beschwert, daß in seiner Nachbarschaft der Drogenkrieg tobt.
Der Irak-Krieg ist ein Projekt des Wahnsinns, das von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Laut begleitender Propaganda ging es darum, »dem Mittleren Osten Demokratie zu bringen«. Wäre das auf der Basis wirklicher Demokratie in den USA geschehen, dann wäre der Irak-Krieg niemals geführt worden, denn die Stimme des Volkes hatte deutlich dagegen gesprochen – Millionen waren im Februar und März 2003 auf die Straße gegangen, um die Aggression zu verhindern.
Das in den Vereinigten Staaten herrschende ökonomische Modell wird trotz der schönfärberischen Auftritte seitens des Präsidenten scheitern und in einem Tsunami der Raffgier enden. Arbeiterinnen und Arbeiter werden entlassen, ihre Löhne werden gekürzt, während sie gleichzeitig aufgefordert werden, mehr zu produzieren. Und die Vorstände der Konzerne, für die sie schuften müssen, gewähren sich selbst immer höhere Gehälter und Prämien. Was ist das für ein Staat, in dem immer mehr Menschen in eine Lage geraten, die von Verschuldung und Verzweiflung geprägt ist? In welcher Lage ist diese Nation, wenn die Regierung nur noch als Profiteintreiber für die herrschende Klasse des Industrie- und Finanzkapitals fungiert? Der Kongreß verkauft sich an den Meistbietenden. An dem Skandal um den Finanzmakler Jack Abramoff zeigt sich eine Käuflichkeit der
Kongreßabgeordneten, die alles übertrifft, was aus der Ära der Raubritter bekannt ist.
Was ist das für eine Demokratie, wenn die Exekutive Tausende Telefone in den USA abhören kann, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, sie verfüge über eine richterliche Anordnung? Das alles ist nicht neu, denn mehrere Präsidenten haben US-Bürger abhören lassen. Erwiesenermaßen bereits seit Mai 1940, als Präsident Franklin D. Roosevelt seinen Justizminister anwies, Telefone anzuzapfen von Leuten, »die in die Landesverteidigung involviert sind«. Diese Abhöraktionen dauerten an bis zu dem Zeitpunkt, als Justizminister Ramsey Clark sie während der letzten Jahre der Amtszeit von Präsident Lyndon B. Johnson drastisch einschränkte. Die Ära des Counterintelligence Program (COINTELPRO) in den 1960er Jahren markierte
einen Höhepunkt dieser illegalen und verfassungswidrigen Praktiken, als auf der Basis dieses FBI-Geheimdienstprogramms jeder, der im Verdacht stand, in Opposition zur Regierungspolitik zu stehen, vom Staat überwacht, abgehört und verfolgt und seine Wohnung aufgebrochen werden konnte. Der Staat zerrüttete Ehen und trieb Menschen in den persönlichen Zusammenbruch und sogar in den Tod. In den Hochzeiten dieses Programms wurden Millionen Menschen Opfer dieser Machenschaften, weil sie gewagt hatten, für gesellschaftliche Veränderungen einzutreten.
Wir leben in der Abenddämmerung dieser Demokratie, in der die Stimmabgabe bei Wahlen genauso erfolgversprechend ist wie das Ausfüllen eines Lottoscheins, in der die US-Regierung eine repressive Ära globalisierter Habgier eingeleitet hat und ihre Kriegsmaschine mit Öl, Blut und Lügen schmiert. Das ist die wirkliche Lage der Nation.
(Übersetzung: Jürgen Heiser)
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