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Vor 50 Jahren: Schwarze Pariser Kommune

09.09.21 (von ivk-jw) Vor 50 Jahren lehnten sich die Inhaftierten des Attica-Gefängnisses im US-Bundesstaat New York gegen Rassismus und Ausbeutung auf

Link zum Artikel in junge Welt Nr. 209 vom 9. September 2021: Bitte HIER klicken!

Schwarze Pariser Kommune
Von Jürgen Heiser

In den vergangenen Jahren kam es in US-­Gefängnissen immer wieder zu Streiks. Dabei bezogen sich die Inhaftierten regelmäßig auf einen legendären Gefangenenaufstand, der sich an diesem Donnerstag zum fünfzigsten Mal jährt: die fünftägige Revolte im Zuchthaus Attica im Norden des US-Bundesstaats New York. Unter der Parole »Wir sind Menschen, wir sind keine Bestien!« erhoben sich am 9. September 1971 etwa 1.500 Gefangene – vorwiegend Schwarze und Latinos – gegen die unhaltbaren Zustände in dem Hochsicherheitsgefängnis. Der Aufstand fand weltweite Solidarität, wurde aber brutal niedergeschlagen. Trotzdem brannte sich das Ereignis als »Pariser Kommune des schwarzen Befreiungskampfs« der USA ins kollektive Bewusstsein ein.

Die Entschlossenheit und der Mut der »Attica Brothers«, gegen ein zutiefst rassistisches und menschenfeindliches System aufzubegehren, inspirierten in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder neue Generationen von Gefangenen unter den 2,3 Millionen in den USA inhaftierten Männern, Frauen und Minderjährigen. »45 Jahre nach Attica kehren die Wellen der Veränderung in die amerikanischen Knäste zurück«, hieß es etwa im Aufruf zum ersten landesweiten Gefangenenstreik, der am 9. September 2016 begann. Die Initiatoren erklärten, ihr Arbeitskampf solle »im Geist von Attica« hinter und außerhalb der Mauern »koordiniert und ausgeweitet« werden, damit daraus »eine Gezeitenwende entsteht, die das US-Knastsystem nicht ignorieren und der es nicht standhalten kann«.

Knastfabriken
Dem Kampf gegen die im gefängnisindustriellen Komplex der USA übliche Ausbeutung durch äußerst gering oder gar nicht bezahlte Zwangsarbeit hatten sich 2016 Zehntausende Häftlinge aus rund vierzig Anstalten in der Hälfte der 50 US-Bundesstaaten angeschlossen. Die Angaben über die Zahl der Streikenden schwanken zwischen 24.000 und 72.000. Seit 2015 hatte ein von Bürgerrechts- und Solidaritätsgruppen unterstütztes Häftlingskomitee den »landesweit koordinierten Arbeitsstreik gegen die Sklaverei in den Gefängnissen« vorbereitet und erklärt, sie wollten nicht länger an ihre »Kerkermeister appellieren, sondern selbst handeln«. Die Stärke der Gefangenen sei, dass der Staat ohne ihre Mitwirkung »die Knastfabriken nicht betreiben« könne. Mit ihrer Hauptforderung, sie wollten »wie Menschen und nicht mehr wie Sklaven« behandelt werden, lehnten sich die Streikenden an die Parole der »Attica Brothers« an.

Als die organisierten Gefangenen nach ihrem ersten erfolgreichen Streik zwei Jahre später erneut die Initiative ergriffen und für den 21. August bis zum 9. September 2018 zum Arbeits- und Hungerstreik aufriefen, stellten sie einen weiteren historischen Bezug her: Am 21. August 1971 war George Jackson, Aktivist der »Black Panther ­Party«, im kalifornischen Staatsgefängnis San Quentin ermordet worden. In einem bis heute unter einem Lügengebilde verdeckten Komplott war Jackson von Wärtern »auf der Flucht« erschossen worden. Der Streikaufruf von 2018 verwies darauf, dass die auf den Mord an Jackson folgenden Proteste damals »im Aufstand von Attica gipfelten, bei dem die Insassen für vier Tage das Kommando über das Zuchthaus übernahmen«.

Hinter großen politischen Umbrüchen stehen immer konkrete Menschen, die Lehren aus diesen Kämpfen weitergeben können. Für viele außerhalb der USA ist der Attica-Aufstand ein anonymes Ereignis geblieben, da es keine öffentlichen Aussagen von Beteiligten und nur wenige von Zeitzeugen gab. Einer der wenigen Aufständischen von 1971, der heute noch lebt, ist Jorge »Che« Nieves. Im Juli 2021 gab Nieves der von der »Workers World Party« herausgegeben Wochenzeitung Workers World ein Interview.

In dem zweiteiligen Gespräch erinnerte sich ­Nieves, wie es dazu kam, dass er am Knastaufstand teilnahm.¹ Seine Schilderungen machen nachvollziehbar, warum von dieser Revolte noch Jahrzehnte nach ihrer brutalen Niederschlagung für viele Menschen eine ermutigende Orientierung ausgeht und »Attica für immer lebendig bleiben wird«, wie Nieves sagt. Das Vermächtnis der Erhebung der Unterdrückten hinter den Mauern von Attica werde fortbestehen, betont er, »denn solange es Menschen gibt, die kämpfen, bedeutet Attica: Wehrt euch!«

Die frühe Lebensgeschichte von Nieves ist typisch für Arbeiterjugendliche der schwarzen und hispanischen Bevölkerung in den USA jener Zeit, die sich irgendwann in ihren jungen Teenagerjahren hinter den Mauern menschenfeindlicher Massenkerker wiederfanden. Ein Zustand, der nur geringfügig verändert bis heute fortbesteht. »Meine Mutter war Jamaikanerin, und ihre Familie kam in den frühen 1900er Jahren aus Jamaika nach Puerto Rico«, erzählt Nieves. Sie siedelten sich auf der Insel an, lernten die Sprache und »wurden in die puertoricanische Geschichte und Kultur integriert«. Dann emigrierte die Mutter wie viele erwerbs- und chancenlose Menschen der US-Kolonie Puerto Rico nach New York City, »um ein neues Leben zu beginnen«. Zunächst fand sie einen Job, doch als Jorge geboren wurde, war sie erwerbslos. Seinen Vater hat Jorge nie kennengelernt. »Ich bin auf der Straße aufgewachsen«, fasst Nieves sein Dasein in Kindheit und Jugend zusammen.

Um unter den harten Verhältnissen der Straße bestehen zu können und »für meine Selbstachtung zu kämpfen«, schloss er sich einer Gang an. Es kam zu Auseinandersetzungen, jemand wurde tödlich verletzt und der Teenager Nieves deshalb verhaftet und angeklagt. Staatsanwaltschaft und Pflichtverteidiger drängten ihn – wie im US-Justizsystem üblich – zu einem »Geständnis«, um nicht wegen Mordes, sondern »nur« wegen Totschlags verurteilt zu werden. Mit dem Bekenntnis eines Angeklagten, »schuldig« zu sein, entfällt die eventuell langwierige und teure Beweisaufnahme. Nieves ließ sich auf den Deal ein, obwohl seine Mutter ihn gewarnt hatte – trotz seines hellen Teints sei er für andere »schwarz«: »Vergiss das nie!«

Das harte Urteil für das Straßenkind lautete sieben bis 15 Jahre Gefängnis, von denen er am Ende 14 absitzen musste. Jahr für Jahr wurde ihm klargemacht, wie recht seine Mutter hatte. Es war nur ein schwacher Trost, dass er nicht wegen Mordes zum Tode verurteilt wurde. »Die wollten mich anfangs auf den elektrischen Stuhl bringen, obwohl ich erst 14 war. Aber so war das vor 50 Jahren«, erklärt Nieves im Interview. »Da konnte jemand auch im Alter von 14 Jahren auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet werden.«

Im Knast lernte er, sich Respekt zu verschaffen. Weil er sich mit anderen Gefangenen verbündete, zerschlug die Anstaltsleitung das neu entstehende Netzwerk, und Nieves wurde irgendwann in den frühen 1970er Jahren ins Auburn-Gefängnis im US-Bundesstaat New York verlegt. »Es gab Unruhen, keine Krawalle, sondern Rebellionen, Aufstände für Menschenrechte und Freiheit und gegen die schlechten Bedingungen in den Gefängnissen. Das hat es immer gegeben.« Er lernte »Brüder der Black Panther Party« kennen. »Sie klärten mich über meine Geschichte auf. Ich hatte keinen blassen Schimmer von mir selbst, von meiner Unterdrückung und vom Rassismus. Die brachten mir das bei und öffneten mir die Augen.« In den Diskussionen mit seinen neuen Genossen lernte Nieves auch, dass seine Heimatinsel Puerto Rico seit der Besetzung durch die US-Armee im Jahr 1898 eine Kolonie der USA ist. Und dass Washington die Inselbewohner als Bürger zweiter Klasse ansieht.

Zum »Panther« erzogen
In diesen Jahren wurde Nieves ein »Panther«. »Die Panthers haben mich wirklich wachgerüttelt, und wir begannen, uns im Auburn-Gefängnis zu organisieren.« Wieder reagierten die Knastbürokraten mit Repression und dem üblichen Verlegungskarussell zur Zerschlagung kollektiver Strukturen. »Einige von uns wurden nach Attica verlegt«, erinnert sich Nieves. Dort gehörten prügelnde Wärter und vielfältige Misshandlungen zum Alltag. »Einmal wäre ich fast gestorben. (…) Aber ich bin noch da und kämpfe weiter. Die Revolution ist nicht aufzuhalten!« In Attica versammelte er wieder Gleichgesinnte um sich. »Ich sprach mit den Latinos über Puerto Rico und den Kolonialismus. Ich sprach über Martin Luther King und die schwarze Bürgerrechtsbewegung, die ich mit jedem anderen Kampf verbinde.« Ein Gefangenenkollektiv entstand.

Zu dieser Zeit arbeitete Nieves in der Metallwerkstatt und wollte eine Gewerkschaft gründen. War die Gründung einer schlagkräftigen und unabhängigen Arbeiterorganisation schon draußen nicht einfach, so war das ohne entschlossenen Kampf im Knast nicht zu machen. Nieves und den anderen Gefangenen war klar: »Wir mussten einen Metallarbeiterstreik durchführen. Also schritten wir zur Tat.« Die Gefängnisleitung reagierte wieder mit Zwangsverlegungen, und so ging Nieves ein weiteres Mal zwangsweise auf Transport. Diesmal von Attica ins Greenhaven-Gefängnis.

Die Stimmung unter den vorwiegend hispanischen Insassen dort war angespannt. Mit anderen Puertoricanern organisierte Nieves einen Ableger der »Young Lords Party« (YLP). In Chicago hatte sich die YLP Ende der 1960er Jahre aus einer Straßengang analog zur »Black Panther Party« in eine Partei verwandelt, die für Bürger- und Menschenrechte eintrat. Die YLP-Gruppe im Greenhaven-Gefängnis wuchs schnell »und wurde riesig«. Als Konsequenz wurden Nieves und sein Compañero José als »Rädelsführer« isoliert und wieder nach Attica abgeschoben. Dort in der Metallwerkstatt nahmen sie ihren Plan für einen Streik zur Durchsetzung ihrer Gewerkschaft wieder in Angriff.

Mitten hinein in die Vorbereitungen des Ausstands platzte die Nachricht von der Ermordung George Jacksons in San Quentin. Der damals international bekannte »Black Panther« war wie ­Nieves als Arbeiterjugendlicher auf der Straße groß geworden und im Gefängnis gelandet. In seinem »autobiographischen Brief« schrieb Jackson alias »Häftling Nr. A 63837« am 10. Juni 1970: »Schwarze, die in den USA geboren werden und das Glück haben, älter als 18 Jahre zu werden, können todsicher damit rechnen, irgendwann mal ins Gefängnis zu kommen.«² Im Jahr 1941 in einem Armenviertel Chicagos geboren – laut Jackson »halb Ghetto, halb Fabrikgelände« – und mit drei Schwestern aufgewachsen, erlebte er im Kindergarten »ein traumatisches Erlebnis«, als er zum ersten Mal echten »weißen Jungen aus Fleisch und Blut« begegnete. Als er ungläubig einen betastete, bekam er »eins mit dem Baseballschläger über den Kopf«. Im Alltag und in der katholischen Missionsschule lernte er, dass es in der Gesellschaft zwei Seiten gibt. Auf der »guten Seite waren alle weiß« und privilegiert. »Wir von der schwarzen Seite hatten nichts als die belebten Bürgersteige und die Gasse hinter der Schule.« »Heute weiß ich«, schrieb Jackson 1970, »dass das Verhängnisvollste, was ein kolonisiertes Volk seinen Kindern antun kann, ist, sie in eine Bildungseinrichtung zu schicken, die von der vorherrschenden feindlichen Kultur des Kolonisators bestimmt wird.«

In der rassistischen Gesellschaft war für Jackson die Laufbahn vorgezeichnet. »Mit 18 Jahren wurde ich verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, weil ich mich nicht anpassen konnte«, schrieb er. Seine Akte las sich »wie das Sündenregister von zehn Männern«, und am Ende war es der Diebstahl von 70 US-Dollar aus einer Tankstelle in Los Angeles, der ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter brachte. Auch er erklärte sich »zu einem Kuhhandel bereit (…), um dem Gericht Kosten zu ersparen und dafür nur eine leichte Strafe zu erhalten«. Sein Geständnis brachte ihm 1960 die damals noch zulässige »Gummistrafe« von einem Jahr bis lebenslänglich ein. Führte sich der Delinquent »vorbildlich«, konnte er nach einem Jahr auf Bewährung freikommen. Den »renitenten« Jackson jedoch ließ der Bewährungsausschuss bis an sein Lebensende brummen: Elf Jahre in den Zuchthäusern Soledad und San Quentin, sieben davon in Einzelhaft.

»Revolutionäre Mentalität«
Durch seine Erfahrungen im repressiven Knastsystem und das Lesen der Klassiker der Arbeiterbewegung wurde Jackson sich der politischen Verhältnisse bewusst, die ihn und seine Klasse niederhalten. »Als ich ins Gefängnis kam, traf ich Marx, Lenin, Trotzki, Engels und Mao, und sie haben mich erlöst«, schrieb Jackson an seinen Verlagslektor Greg Armstrong vor Veröffentlichung seines ersten Buches »Soledad Brother: The Prison Letters«³. Begegnungen mit politischen Gefangenen aus der Bürgerrechtsbewegung prägten ihn. Mit ihnen machte er sich daran, »die kriminelle Mentalität der Schwarzen in eine revolutionäre Mentalität zu verwandeln«. Jackson schloss sich der »Black Panther Party« an und arbeitete unter widrigsten Bedingungen am Aufbau einer zum Kampf entschlossenen Gefangenenbewegung.

Der Staat übte gegen diese Militanten »jahrelang die schlimmste reaktionäre Gewalt« aus, was zu »einer hohen Sterblichkeitsrate« führte, wie Jackson 1970 schrieb. Aber die Gefangenen wehrten sich, ein Wärter starb in Soledad. Es kam zu weiteren Anklagen, und Jackson und zwei Mitgefangenen drohte die Todesstrafe. Durch die internationale Solidaritätskampagne für Angela Davis, die als Kommunistin unter Kaliforniens Gouverneur Ronald Reagan ihre Professur verloren hatte und George Jackson unterstützte, wurde auch der Fall der angeklagten »Soledad-Brüder« bekannt. Bob Dylans »Ballad of George Jackson« verbreitete die Kunde vom Kampf um Jacksons Leben. Doch auch die starke internationale Solidarität konnte »Comrade George«, wie ihn viele nannten, nicht schützen. Am 21. August 1971 starb er in San Quentin in einem Hinterhalt. »Kein Schwarzer wird jemals glauben, dass George Jackson so gestorben ist, wie sie es uns erzählen«, erklärte US-Autor James Baldwin in London auf einer Pressekonferenz zum Tod Jacksons. »Ich denke, er wurde im Gefängnis ermordet«, wies Baldwin die Behauptungen der Anstaltsleitung von San Quentin über einen Fluchtversuch zurück und forderte »eine Untersuchung des amerikanischen Gefängnissystems«.⁴

Hungerstreik
Unterdessen beschlossen Nieves und seine Genossen in Attica, einen Hungerstreik zum Gedenken an Jackson zu organisieren. Wie verabredet gingen an dem Tag alle Häftlinge des D-Blocks wie üblich in die Kantine. Es herrschte absolute Stille. Viele trugen schwarze Armbinden. Sie setzten sich an die Tische, aber niemand rührte sein Essen an. Die Knastleitung reagierte angesichts der Geschlossenheit ihres Handelns äußerst beunruhigt. Es war klar, dass ein Funke genügte, und der völlig überfüllte Knast würde explodieren. Das Essen in Attica war so miserabel wie die gesamten Haftbedingungen. Fünfzig Jahre nach dem September 1971 erinnert sich Nieves im Interview an jedes Detail, als wäre er erst gestern entlassen worden. »Man bekam nur eine Rolle Toilettenpapier im Monat, es reichte nie! Duschen war einmal pro Woche!« Viele Latinos konnten keinen Besuch bekommen, auch wenn die Angehörigen oder Freunde schon angereist waren. Kaum ein Wärter sprach Spanisch, also verstanden sie die Besucher nicht. Und wer kein Englisch sprach, musste draußen bleiben. Briefe, die auf Spanisch an die Häftlinge geschrieben wurden, ließen die Beamten der Postzensur verschwinden. »Das war weiße Vorherrschaft in ihrer Reinform«, so Nieves. »Rassismus war in Attica allgegenwärtig.«

In Attica kulminierte nach dem am 23. August 1971 durchgeführten symbolischen Hungerstreik von 757 der 768 Insassen in Block D schließlich all das, was sich schon lange zusammengebraut hatte. Nicht zufällig waren 85 Prozent der 2.254 Insassen von Attica Schwarze und Puertoricaner. Ihnen standen 378 Wärter und weitere Aufsichtsbeamte gegenüber, die auch nicht zufällig ausnahmslos Weiße waren.

Noch Ende 1970 hatte eine Regierungskommission die Zustände in Attica untersucht und vor Unruhen gewarnt, »sofern nicht unverzüglich tiefgreifende Veränderungen vorgenommen« würden.⁵ Der neue Anstaltsleiter Russell G. Oswald versprach anlässlich seiner Amtsübernahme am 1. Januar 1971 rasche und effektive Verbesserungen. Doch im Juli 1971 war noch alles beim alten. Eine Delegation von Gefangenen übergab daraufhin einen Katalog mit Vorschlägen für Änderungen. Wieder passierte nichts. Als dann nach dem Hungerstreik für George Jackson Wärter Gefangene verprügelten und in Isolierzellen warfen, spitzte sich die Lage zu.

Am 9. September, einem Donnerstag, weigerte sich eine größere Gruppe Häftlinge, nach dem Frühstück zum Arbeitseinsatz anzutreten. Innerhalb von Minuten sprang der Funke auf mehr als eintausend Gefangene über, die sofort die Kontrolle über einen der vier Zellenblocks übernahmen und 38 Wärter und Gefängnisangestellte als Geiseln festsetzten. Sie verbarrikadierten alle Zugänge und erklärten schriftlich: »Wir sind Menschen. Wir sind keine Bestien. Und wir nehmen es nicht hin, als solche geschlagen und misshandelt zu werden.« Ihr Handeln sei ein »Warnschrei der Unterdrückten«, die »der unhaltbaren Brutalisierung (…) hier und überall in den Vereinigten Staaten ein Ende setzen werden«.

Anstaltsleiter Oswald und der alarmierte Gouverneur Nelson Rockefeller waren von der Entschlossenheit der Häftlinge überrascht. Oswald nahm umgehend Verhandlungen mit den Gefangenen auf. Es zeigte sich, dass diese vorbereitet waren und als erstes ihre Forderung durchsetzten, ein Vermittlungsteam aus neutralen Beobachtern, Presseleuten und Vertretern der »Nation of Islam«, der »Black Panthers« und »Young Lords« zu ernennen. Noch am selben Tag konstituierte sich unter seinem Sprecher, dem Puertoricaner Tom Soto, das »Prisoners Solidarity Committee« (Solidaritätskomitees für Gefangene, PSC). Doch die Knastleitung hielt das PSC einen ganzen Tag hin, bis Soto zum ersten Mal das »befreite Gebiet des Blocks D« schließlich betreten konnte. »Ich sah das Unglaublichste, das ich jemals in meinem Leben gesehen habe. Ich sah 1.500 Brüder – schwarz, weiß, braun – Arm in Arm. Ihre Solidarität war augenscheinlich.«

Die bewaffneten Rebellen waren entschlossen, etwas zu erreichen und übergaben dem PSC ein Manifest mit einer Liste von 28 Forderungen. Unter anderem verlangten sie das Recht auf freie Versammlung im Knast, ein Ende der Medienzensur und der rassistischen und politischen Verfolgung. Außerdem eine angemessene medizinische Versorgung sowie ein Ende der Ausbeutung durch unbezahlte Zwangsarbeit für die Profite von Staat und Industrie. Sie forderten einen gesetzlichen Mindestlohn, um ihre Familien unterstützen zu können, Möglichkeiten zur Berufsausbildung und das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Zur Klärung all dieser Fragen verlangte das Häftlingskomitee eine rechtliche Vertretung gegenüber der Anstaltsleitung und eine Amnestie für alle am Aufstand beteiligten Gefangenen.

Durch die hinterhältige Verhandlungstaktik der Behörden und das von Gouverneur Rockefeller angeordnete heimliche Zusammenziehen von Polizeitruppen zur geplanten Niederschlagung der Revolte zogen sich die Verhandlungen vier Tage hin, in denen der Aufstand mehr und mehr die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erregte.

Schießbefehl
Am Morgen des 14. September erfolgte dann ohne Vorwarnung der Angriff zur gewaltsamen Rückeroberung des Knastes. Während Nationalgarde und Militär in New York City Verkehrsknotenpunkte und U-Bahnstationen besetzten, um sofort auf eventuelle innerstädtische Unruhen reagieren zu können, ließ Gouverneur Rockefeller seine für ihren Rassismus berüchtigten Truppen von der Kette. Im von Tränengas begleiteten Kugelhagel aus Gewehren und Pistolen starben 30 Gefangene und neun Wärter. Letztere gehörten zu den Geiseln, mit denen sich die Aufständischen gegen einen solchen Angriff der Sicherheitskräfte hofften schützen zu können. Doch den Verantwortlichen waren die Leben ihrer Beamten ebensowenig wert wie die der Gefangenen. US-Präsident Richard Nixon begrüßte den Angriff, und Gouverneur Rockefeller erklärte, es sei eine »wunderbare Operation« gewesen.

Im offiziellen Bericht des Untersuchungsausschusses zu Attica hieß es 1972 zur Erteilung des Schießbefehls durch Rockefeller und Oswald: »Von Anfang an sah der Gouverneur in dem Aufstand mehr als nur eine Gefangenenmeuterei. Der Aufstand stelle im Prinzip eine Erhebung gegen die Autorität des Staates dar, und dies zu erdulden hieße, einen Verlust an Überlegenheit über die Rebellen einzugestehen.« Es sei nicht darum gegangen, »die Geiseln aus der Masse der 1.200 Insassen herauszuretten«. Die Entscheidung, das Gefängnis zurückzuerobern, sei vielmehr »ein eindeutiges Pochen auf die Gesetze des Staates, seine Souveränität und seine Macht« gewesen, so der Bericht.⁶

Angela Davis erklärte zum Verlust »von George Jackson und den entschlossenen Genossen von Attica«, trotz der »schweren Niederlagen« werde deutlich, dass die »alten Ideologien, die Elend und Unterdrückung verewigen, bei der Masse der Unterdrückten ihre Glaubwürdigkeit« verlören. Jackson sei »ein großartiges Beispiel für dieses neue Bewusstsein«. Die »beispielhaft organisierte Revolte in Attica« habe »in ihrer Intensität, ihrer politischen Qualität und in ihrer Einheit« dieses neue Stadium signalisiert. Die »blinde Wut in der Reaktion der herrschenden Klasse« verrate, »wie sehr sie sich von denen bedroht fühlt, die sie vorgeblich fest unter Kontrolle hat«.⁷

Anmerkungen

1 Vgl. Workers World: Interview with Attica survivor Che Nieves, Part I & Part II. 11. und 18.8.2021

2 Jürgen Heiser/Agipa-Press (Hg.): Comrade George & Attica. Die Zeit des Blues ist vorbei … Bremen 1991, S. 17 ff. Die nachfolgenden autobiographischen Skizzen Jacksons entstammen diesem »autobiographischen Brief« an seinen Verlagslektor.

3 www.freedom-now.de/news/artikel1937.html

4 New York Times, 25.08.1971, S. 14

5 Vgl. Peter Michels: Attica – Die unglaublichste Gefängnisrevolte. In: Black Perspectives. Berichte zur schwarzen Bewegung, Band 1: USA. Agipa-Press, Bremen 1999, S. 236 ff. Die folgenden Schilderungen und Zitate entstammen dem Essay von Michels, der vom 9. bis 14.9.1971 als Reporter vor den Toren Atticas das gesamte Geschehen als Zeitzeuge verfolgte und es in Wort und Ton aufzeichnete.

6 Heiser (Hg.): Comrade George & Attica. Die Zeit des Blues ist vorbei …, a. a. O. S. 240

7 Ebd., S. 241

 
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