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Kolumne vom 25.01.03: Das System hat keine Fehler, es ist der Fehler

25.01.03 (von maj) Gouverneur Ryan von Illinois hat dem System der Todesstrafe einen mächtigen Schlag versetzt

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 21, 25./26. Januar 2003

George H. Ryan hatte nur eine einzige Amtsperiode als Gouverneur von Illinois, aber er hat sich das Beste für zuletzt aufgehoben: Er entließ vier Gefangene aus den Gefängniszellen der Verdammten in die Freiheit und sandte damit Schockwellen durchs ganze Land. Einer dieser vier hatte fast zwei Jahrzehnte in der Schattenwelt der Kerker zugebracht. Mit seinem Akzent des Mittleren Westens sprach Ryan die entscheidenden Worte, die jetzt nicht weniger heftig einschlugen als ehemals die Richtersprüche der Todesurteile, die er damit wieder aufheben ließ: »Das System funktioniert nicht.«
Mit seiner Entscheidung holte er die vier Männer aus den finstersten Ecken des Landes wieder ans Licht: Stanley Howard, Madison Hobley, Aaron Patterson und Leroy Orange. Zur Erläuterung erzählte er eine Episode aus dem Leben Abraham Lincolns, des berühmtesten Bürgers von Illinois, zu dessen Aufgaben es während des amerikanischen Bürgerkriegs gehörte, Hinrichtungsbefehle gegen Soldaten zu überprüfen, die gegen die Militärgesetze verstoßen hatten. Einmal fragte er einen seiner Generäle, warum sich in der Akte eines verurteilten Soldaten kein einziger Brief mit einem Gnadengesuch befände. Der General zuckte die Schultern und antwortete: »Er hat keine Freunde.« Lincoln erwiderte: »Doch, er hat einen Freund«, nahm seinen Federhalter und bewahrte den Mann durch seinen Aufhebungsvermerk vor dem Henker.
Ryan sagte, jeder dieser vier Gefangenen aus dem Todestrakt sei ein Opfer von Polizeifolter, erpreßten Geständnissen, gefälschten Anklagen und Blindheit der Justiz. Auch sie hätten nur einen einzigen Freund gehabt und der habe sich entschieden, den gordischen Knoten zu durchschlagen. Deshalb habe er diese Männer in die völlige Freiheit entlassen. Noch am selben Tag konnten drei der vier ihre Zellen verlassen, hinaus in den kühlen Wind Chicagos - hinaus in die Freiheit.
Durch seine Entscheidung hat Ryan dem Todesstrafensystem einen ernsten und lähmenden Schlag versetzt und vor aller Welt deutlich gemacht, daß die Würdenträger und Beamten des Staates unfähig sind, die ernsten Probleme der Todesstrafe zu kurieren.
Es paßt, daß Ryan, ein streitbarer Politiker und Nicht-Jurist (»Ich bin Apotheker« hat er immer wieder betont) derjenige war, der den Mut aufbrachte, zu Lösung dieser dramatischen Probleme beizutragen. Es paßt genauso, daß die Probleme des Todesstrafensystems von Illinois nicht durch die Anwaltskammer ans Licht gebracht wurden, sondern durch die unermüdliche Wühlarbeit von Journalistikstudenten, deren Untersuchungsergebnisse Ryan zu dem Schluß kommen ließen, den er ein paar Jahre später öffentlich verkündete: »Das System funktioniert nicht.«
Stunden vor der beispiellosen Begnadigung der vier Todeskandidaten kündigte Ryans Büro ein weiteres Ereignis an, das ein noch größeres Erdbeben auslöste: Die Umwandlung der Todesurteile aller Insassen der Todeszellen des Prairiestaates in lebenslange Haft. Am Ende der Woche war kein einziger der 167 Gefangenen mehr im Todestrakt.
Bei seiner Wahl zum Gouverneur war Ryan noch ein konservativer Republikaner gewesen, der »nicht den geringsten Zweifel daran hatte«, daß die Todesstrafe rechtmäßig und moralisch in Ordnung ist. Ryan war der letzte Politiker, dem man zugetraut hätte, den siebtgrößten Todestrakt der USA zu schließen.
Ryan sprach mit belegter Stimme, die Nervosität war ihm anzumerken bei diesem Auftritt, aber er versetzte dem Todesstrafensystem der USA einen mächtigen Schlag. Sein Blickfeld ist wirklich bemerkenswert weit für einen US-amerikanischen Politiker, wenngleich das erst deutlich wurde, als er aus dem Amt schied. Denn Ryan sprach nicht nur über die zum Tode Verurteilten, sondern er machte auch die Probleme der Prozesse, Anklagen und Urteile gegen diejenigen zum Thema, die Lebenslang erhalten. Seine Worte drücken die selten ausgesprochene Anerkenntnis eines Regierenden aus, daß das gesamte Strafsystem Defizite aufweist: »Das System hat sich als gefährlich ungenau, ungerecht und als unfähig erwiesen, wirklich zwischen Unschuldigen und Schuldigen zu unterscheiden ... und es ist rassistisch.«
Ohne Frage gebietet die Umwandlung von weit über 150 Todesurteilen der kalten Hand des Todes Einhalt, aber damit ist nichts gesagt über das Unrecht, das so viele in den Todestrakt brachte, und so nehmen sie das Unrecht mit vom Todestrakt in den »Trakt der Lebenslangen«, denn diese Probleme, diese tiefen Risse im System bleiben auch dort bestehen. Es entspricht auf tragische Weise den Tatsachen, daß »das System nicht funktioniert«, wie Ryan es nannte. Und es ist die bittere Wahrheit, daß sein Bemühen, das ohne jeden Zweifel nobel und heroisch ist, das Dilemma nicht gründlich beseitigt.
Ryan ist es zu verdanken, daß eine hochrangig besetzte Kommission beauftragt wurde, das Todesstrafensystem des Bundesstaates zu untersuchen, und diese Kommission kam nach drei Jahren zu einem politischen und streng wissenschaftlichen Schluß: »Das System funktioniert nicht.« Die aus Staatsanwälten, Richtern, Strafverteidigern und Wissenschaftlern bestehende Kommission lieferte ihren Bericht ab und sprach 85 Empfehlungen aus, wie das System wieder »in Ordnung zu bringen« sei. Aber die Legislative entschied sich, die Empfehlungen zu ignorieren, genauso wie die höchste Gerichtsbarkeit des Bundesstaates sich entschieden hatte, selbst die offensichtlichsten Ungerechtigkeiten abzusegnen, und so fühlte sich der Nicht-Jurist Ryan dazu berufen, selber zu handeln.
Wenn das System nicht funktioniert, wie kann es sich selbst reparieren? Ryans außergewöhnlicher Schritt scheint zu bestätigen, daß es dazu nicht in der Lage ist. Denn wenn die vier Männer jetzt frei sind, weil sie zu unrecht verurteilt waren, kann es denn sein, daß sie die einzigen Unschuldigen in den Todestrakten oder den noch größeren Trakten der Lebenslangen sind? Das ist sehr unwahrscheinlich. Anders gesagt: wenn das System, das all diesen Problemen zugrundeliegt, unangetastet bleibt, was wird dann mit denen, die erst in Zukunft in diese Mühle geraten? Wieviele Jahre werden weitere Unschuldige noch in diesen stickigen Sklavenschiffen aus Stahl und Beton, die man Gefängnisse nennt, leiden müssen, bevor ein weiterer Skandal das Systems erneut erschüttert?
Vergleichbar mit den zyklisch ans Licht kommenden Fällen von Polizeikorruption, von denen viele Städte wie New York, Philadelphia, Los Angeles und sogar Chicago geplagt werden, ist das Problem jetzt noch nicht gebannt, sondern es wurde nur an künftige Regierungen weitergereicht. Deshalb darf sich die Bewegung zur Abschaffung der Todesstrafe nicht auf Ryans Schritt ausruhen, sondern sie muß ihn als einen ersten wichtigen Schritt im systematischen Kampf für eine grundlegende Veränderung begreifen.

Übersetzung: Jürgen Heiser

 
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