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Kolumne # 646 vom 11.05.2013: Schuldnachweis ohne Belang

11.05.13 (von maj) Oberstes US-Gericht hebt Berufungsurteil gegen Lorenzo Johnson trotz Beweismangel wieder auf

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 108 – 11./12. Mai 2013

In seiner Heimatstadt Harrisburg, Pennsylvania, nannte man Lorenzo Johnson »Cat«, weil er als junger Mann durch die Straßen strich und als »Hustler« krumme Dinger machte. Er kannte nichts anderes. Dann kam der 15. Dezember 1995, der sein Leben völlig veränderte. Zusammen mit einem anderen Mann wurde er angeklagt, nach einem Barbesuch einen dritten Mann, Taraja Williams, im Stadtteil Allison Hill umgebracht zu haben. Johnson wurde zwar nicht beschuldigt, den tödlichen Schuß auf Williams abgegeben zu haben, nach Polizeiangaben soll er aber dabei Schmiere gestanden haben. Bis heute hat das jedoch keiner der Tatzeugen bestätigt. Ein Beobachter benannte sogar drei andere Männer als Mörder. Diese wurden auch identifiziert, aber nie unter Anklage gestellt. In den Augen von Polizei und Justiz war der Mittäter der, den sie hatten – Lorenzo Johnson alias »Cat«.

Ungebildet, geschult nur durch das Leben auf der Straße und faktisch Analphabet, sah Johnson kein Land mehr. Er versuchte zwar, seinen Pflichtverteidiger davon zu überzeugen, daß er nicht getan hatte, was man ihm vorwarf, und daß er zur Tatzeit weder am Ort noch überhaupt in Pennsylvania war. Sein vom Gericht bestellter Anwalt hielt sich indes lieber an die Polizeiberichte und kämpfte nicht für seinen Mandanten. Es kam, wie es kommen mußte: Nach kurzem Prozeß wurden Johnson und der Hauptangeklagte wegen Verschwörung zum gemeinschaftlich begangenen Mord verurteilt. Alibizeugen waren von der Polizei unter Druck gesetzt worden und »verschwunden«.
Jahre gingen ins Land, in denen Johnson einen verzweifelten Kampf führte. Im Gefängnis holte er seine Schulbildung nach, erlangte seine Hochschulreife und absolvierte ein Jura-Fernstudium. Jahr um Jahr kämpfte er um seine Entlastung und Freiheit.
Am 28. September 1998 gab es für ihn einen schwachen Hoffnungsschimmer, als ein Richter ein kurzes, aber starkes Minderheitsvotum in einer Berufungsentscheidung abgab. Richter Schiller erklärte: »Ich glaube, daß es weder einen direkten Beweis dafür gibt, noch daß ein solcher gefolgert werden könnte, der den Beschuldigten mit dem Tod Taraja Williams’ in Verbindung bringen könnte. Auch ist keine Verabredung zu erkennen, die zur Tötung Williams’ führte.«
Man hätte nun annehmen können, daß der Fall damit zu einem guten Ende käme, aber ein abweichendes Minderheitsvotum bleibt rechtlich folgenlos, denn zwei Richter stimmten gegen Johnson, nur einer für ihn. Erst 13 Jahre später entschieden Berufungsrichter erneut über seinen Fall, diesmal genau anders herum: zwei stimmten für Johnson, einer gegen ihn. Am 4. Oktober 2011 urteilte das 3. Bundesberufungsgericht ähnlich wie Schiller über ein Jahrzehnt zuvor. Die Bundesrichter konstatierten »eine unbefriedigende Beweislage«, was einem Freispruch gleichkam. Drei Monate später konnte Johnson das Gefängnis als freier Mann verlassen.
Aber damit war die Sache noch längst nicht zu Ende. Wieder einige Monate später hob der Oberste Gerichtshof der USA ohne vorherige Anhörung und ohne der Verteidigung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, die Entscheidung des Bundesberufungsgerichts wieder auf und setzte das trotz mangelndem Schuldbeweis zustande gekommene Urteil wieder in Kraft. Nach sechs Monaten in Freiheit stellte sich Lorenzo Johnson der Justiz und ließ seine Frau, seine Kinder und seinen Job zurück. Er sitzt im Gefängnis, sein grundlegender Anspruch auf Gerechtigkeit wird ihm verwehrt, weil nach Meinung des höchsten Gerichts in seinem Fall die Frage des Schuldnachweises ohne Belang ist.

www.freelorenzojohnson.org

Übersetzung: Jürgen Heiser


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